Was hat es auf sich mit diesem tonlosen Sprechen? Flüstern kann Schreien sein, Raunen, Brüllen, Wispern. Wie artikulieren wir, wenn Modulation ausbleibt? Was macht das Flüstern mit unseren Lippen, mit unserer Haut? Sandra Gugićs Essay befragt das sprachlose Sprechen, das auch als Metapher gelesen werden kann: Was sagen wir, wenn die Stimme versagt? Wie schreiben wir, wenn wir eine neue Stimme suchen müssen? Flüstert etwa auch das Gedicht? Und was, wenn uns etwas eingeflüstert wird — durch Scham, Angst, Zweifel, aber auch Zufall? Was, wenn die Gegenwart schreit, die Vergangenheit (ver)schweigt? Ist unsere Zukunft dann im Flüstern zu finden?
Verortet ist das Flüstern im Schutzraum, im Theater, am Schreibtisch, im Club: zwischen Sirenen, Gezischel, Verachtung und Balladen. In ihren Referenzpunkten — von »The Walking Dead« und »Twin Peaks« über Alberto Adrián Manguel und György Dragomán zu Pussy Riot und Tracy Chapman — gewinnt das Flüstern Kontur. Beim Lesen geht uns auf, dass das Flüstern nicht überhört werden kann. Es wird aber immer wieder mißverstanden — wie bei der Stillen Post, die das Mißverständnis zum Humorziel ausruft, oder bei einer Schreib-Haltung, die, als vermeintliche Schwäche ausgelegt, mißverstanden und mißgedeutet wird. Gugićs Essay ist ein Aufruf zum Hinhören, zum Zuhören.
Sandra GugićSandra Gugić ist freie Autorin und lebt derzeit in Tel Aviv-Jaffa. Sie studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Ihr Debütroman »Astronauten« erschien 2015 bei C.H. Beck und erhielt den Reinhard-Priessnitz-Preis. 2020 folgte der Roman »Zorn und Stille« bei Hoffmann und Campe. Sie war Mitbegründerin des Autor*innenkollektivs gegen Rechts »Nazis und Goldmund« und des Kollektivs zum Thema Sorgearbeit vs. künstlerische Arbeit »Writing with Care / Rage«. Zuletzt wurden ihr das Heinrich Heine Stipendium und der Niederösterr. Kulturpreis für Literatur zugesprochen. Im Verlagshaus Berlin erschien 2019 ihr Lyrikdebüt »Protokolle der Gegenwart«.