Was die Lösung für mein ursprüngliches Problem angeht, so habe ich natürlich trotz aller Listen- und Gegen-Gedichte keine – aber die Vermutung, dass sie eine Mischung aus Ning Kens dichter Beschreibung der ultra-unrealen Realität und Brandon Taylors Formulierung von Empathie als Handwerk („empathy as craft“) sein könnte:
„Writing requires you to enter into the lives of other people, to imagine circumstances as varied, as mundane, as painful, as beautiful, and as alive as your own. It means graciously and generously allowing for the existence of other minds as bright as quiet as loud as sullen as vivacious as your own might be, or more so. [...] If you’re having a difficult time accessing the lives of people who are unlike you, then your work is not yet done.“
Meine Arbeit als Dichterin ist definitiv noch nicht getan. Und es gibt etwas, das ich sicher weiß, seit Donald Trump Twitter benutzt und ich in einer Bibliothek arbeite, in der ich täglich von Verwaltungssprache umgeben bin: Literatur – im Sinne von Aufmerksamkeit für die Welt, von Vorsichtigkeit, von Zärtlichkeit für die Sprache – ist wichtig. Sie ist, wie die Dichterin Lü Yue schreibt, „das empfindlichste Messgerät für die gegenwärtige Krise der Sprache [die, da bin ich mir sicher, zutiefst mit einer moralischen Krise verflochten ist] – sie ist aber zugleich auch der Rettungsring, den wir der Sprache zuwerfen können.“[1]
Am Ende habe ich dann doch noch ein Gedicht über China geschrieben[2]. Ich habe die Hoffnung, dass man Ning Ken und Brandon Taylor zwischen den Zeilen mittippen hört.
PS: Drei Dinge sollte man wissen, wenn man sich näher mit chinesischer Literatur beschäftigen will – dass China ein ausgesprochen freies Land ist, wie das Zensursystem funktioniert, und wer Zhou Youguan ist.
[1] In: Lea Schneider (Hrsg.): CHINABOX. Neue Lyrik aus der Volksrepublik. Berlin: Verlagshaus Berlin, 2016, S 55.
[2] https://www.goethe.de/ins/cn/de/m/kul/res/rek/20937674.html