Vielleicht ist mein Scheitern an der ultra-unrealen Realität der Grund, warum ich mich eine Weile lang fanatisch mit Listen, Wörterbüchern und Enzyklopädien beschäftigt habe: Dieser Versuch, die Welt unter einer Überschrift zu ordnen, erfassbar zu machen, diese „Reorganisation des Realen“.1 Wenn Kategorien ein Modus des Zugriffs auf Wirklichkeit sind, wie ließe sich dann besser mit dieser Wirklichkeit spielen als durch „lexikalische Wucherung“?2 Natürlich bin ich nicht die erste Dichterin, die auf dieses Verfahren gekommen ist: Von der Bibel bis zur japanischen Hofdame Sei Shonagon, von Homer bis Rabelais, von Jules Verne bis zu Jorge Luis Borges quillt die Weltliteratur über vor Listen und Katalogen. Mitmachen wollte ich trotzdem. Also habe ich mich durch Sei Shonagons „Kopfkissenbuch“ gewühlt, dessen Listen bis heute unerreicht sind. Da gibt es zum Beispiel „Dinge, die sich gefällig krümmen“, „Dinge, die man manchmal mit größerer Gefühlsregung als gewöhnlich wahrnimmt", „Süßlich-fade Dinge“ und „Dinge, die, obwohl sie nichts ungewöhnliches haben, wenn man sie sieht, beeindruckend werden, wenn man ihren Namen in chinesischen Zeichen schreibt.“3 Und ich habe Gedichte geschrieben, die wie Lexikoneinträge funktionieren – über Automaten zum Beispiel, oder über Monster.
in der mathematik gibt es eine ganze gruppe von ihnen, die allerdings nur sporadisch ist. sie sind die grenzposten unserer rationalität, die immerhin markieren, dass wir über eine verfügen. monster haben viele namen: sphinx, godzilla, digimon. ein monster ohne namen ist eine angst. selbst hat es keine, denn es ist, per definitionem, eine mögliche antwort aufs grauen. monster erinnern sich an dinge, die älter sind als sie selbst. sie sind teil der endlosen, aber entscheidenden vorbereitung, die im nachhinein beginnt. das metaphorische m. ist in diesem kontext besonders aktiv, allerdings ebenso schwer zu beobachten. seitwärts durch die geschichte stromernd stößt es mit tatsachen zusammen, und das geht selten gut. das unterm-bett-m. könnte man aufgrund seines wohnorts als komisch bezeichnen, aber die wenigsten monster haben einen sinn für humor. von ihrem niedergang zeugt das krümel-m.: es ist nur noch für kekse gefährlich.
Das herrliche hier ist natürlich die willkürliche Verspieltheit, mit der Listen ein Ordnungssystem behaupten. Ich fasse zweiundzwanzig Dinge unter einer Überschrift zusammen, und sofort entwickeln sie Gemeinsamkeiten, sofort wird „die Welt [...] Gegenstand einer Neuaufteilung in Abhängigkeit von der persönlichen Beziehung, die der Listenmacher zu dieser Welt hat.“4 Eine großartige Anmaßung. Genau aus diesem Grund bin ich Dichterin geworden – um diese Anmaßung nicht den Mächtigeren zu überlassen. Um herauszufinden, wie Definitionen entstehen, wie das fluide Vorbeirauschen der Welt durch Sprache in Kästchen geteilt, in Quadrate gepflügt wird wie das chinesische Zeichen für Feld: 田 . Denn gefährlicher wird es, wenn der Einordnungsanspruch staubernst gemeint ist – wenn aufgrund willkürlicher Merkmale Menschen in zwei Geschlechter oder Lebewesen in wert und unwert geteilt werden. Auf die gleiche Art kann es allerdings auch merkwürdiger werden: Zum Beispiel, wenn Bibliotheken ihre Bücher in Systematiken ordnen und damit ontologische Entscheidungen treffen, die wunderlich anmuten, betrachtet man sie mit Ning Kens quasi-anthropologischem Blick.
Die weltweit bekannteste Klassifikation für Bibliotheken, die Dewey Decimal Classification (DDC), stellt Kochbücher neben Marx' „Kapital“, weil sie „Hauswirtschaft“ als Unterkategorie von „Wirtschaft“ behandelt. Und die von der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) verwaltete Gemeinsame Normdatei (GND) für die Erfassung von Büchern, Autor_innen, Verlagen etc. in Bibliothekskatalogen sortiert unter der Kategorie „Personen“ folgende Unterkategorien, die alle deutschen Bibliotheken benutzen müssen:
Code | Entität |
pif | Familien |
pik | Regierende Fürsten, Mitglieder regierender Fürstenhäuser |
pip | Pseudonyme |
pis | Sammelpseudonyme |
piz | Personennamen, die keinem anderen speziellen Entitätentyp zugehören |
pxg | Götter |
pxl | Literarische Gestalten, Fiktive Gestalten, Sagengestalten |
pxs | Geister |
Geister sind also, zumindest laut der DNB, keine fiktiven Gestalten.