FREQUENZANTEIL 2: SICH MIT FEDERN DES BEUTELWOLFS SCHMÜCKEN
Der australische Kontinent wurde im 18. und 19. Jahrhundert von der britischen Regierung als Strafkolonie nicht nur für Kriminelle, sondern für politische Gegner und insbesondere zur gezielten Ausdünnung der Unterschicht auserkoren. Schon der Diebstahl eines Stücks Brots aus Hunger konnte zur Deportation ans andere Ende der Welt führen. Es wird geschätzt, daß insgesamt 162 000 Sträflinge auf 806 Schiffen deportiert wurden; der jüngste Abgeschobene war 9 Jahre alt. Nur bei 2 Prozent der Verurteilten handelte es sich um Mörder oder Schwerverbrecher, 87 Prozent der Männer und 91 Prozent der Frauen wurden ausschließlich geringer Delikte wegen nach Australien verbannt, wo Strafkolonien wie Pilze aus dem Boden schossen. Nach ihrer Ankunft begannen die zwischenzeitlich nicht weniger Hungriggewordenen die Vogelwelt auszudünnen. Auf der Norfolkinsel rotteten sie den Dünnschnabelnestor, einen sich in hohen Bäumen ebenso wie auf dem Boden zuhause fühlenden, zutraulichen Papagei, aus. Der letzte, als Kuriosität verschleppt, starb 1851 weit weg von zuhause in einem Käfig in London. Belegexemplare für die Tierwelt in den Kolonien genossen in Europa als Ausstellungsstücke größte Beliebtheit, ohne daß sich daraus die Konsequenz ergeben hätte, sie in ihren Lebensräumen als erhaltenswert zu betrachten. Oder ihre Lebensräume als ihre Lebensräume zu betrachten. Die härteste, berüchtigste Sträflingskolonie im ganzen Pazifik, die ihn seine Existenz gekostet hatte, überlebte den Dünnschnabelnestor um drei Jahre.
Dünnschnabelnestor, von John Gould, zwischen 1840 und 1869
Ausrottung ist oft auch ein politischer Prozess. In Tasmanien fanden die Europäer den Beutelwolf vor, dessen Aussterben sich vor wenigen Monaten zum 80. Mal jährte. Er gehört zu denjenigen Tieren, die nicht zufällig oder beiläufig, sondern mit vollem Vorsatz und systematisch ausgerottet worden sind.
Letzter Beutelwolf, Beaumaris Zoo, Hobart, Dezember 1933
Es gibt Tierarten, die zuerst nicht sang- und klanglos genug von der Bildfläche verschwinden können. Dann aber postum plötzlich zu Elvis werden.
1968, 32 Jahre nach dem Tod des letzten Beutelwolfs, meldete ein Frank Darby sich beim renommierten Zeitungskolumnisten und damals bekanntesten australischen Naturforscher Graham Pizzey mit der Behauptung, der Tierpfleger des letzten Tiers im Hobart Zoo gewesen zu sein. Im folgenden, von Pizzey im Mai 1968 in seiner Kolumne begierig und ohne Überprüfung der Aussagen wiedergegebenen Interview erzählte Darby, daß der letzte Beutelwolf von den Zooangestellten zärtlich Benjamin genannt worden sei, erst nach seinem Tod sich aber herausgestellt habe, daß Benjamin in Wirklichkeit weiblich gewesen sei. Darby habe den Beutelwolf morgens und abends mit einem lebenden Kaninchen gefüttert, das jener mit seinen kräftigen Kiefern krokodilartig zerquetscht und stets restlos verschlungen habe. Er habe sich schnell wie ein Blitz bewegt, sei zahm gewesen, habe sich streicheln lassen, aber keinerlei Zuneigung gezeigt. „Er gab nie irgendein Geräusch von sich – sein Verhalten und seine Lautlosigkeit waren unheimlich“, war der Zeitung zu entnehmen.
Lebendfütterungen verstießen schon in den 1930ern gegen internationale Zoostandards. Die Tochter des damaligen Zoodirektors Alison Reid, die als unbezahlte Kuratorin, ihrem erkrankten Vater unter die Arme greifend, während der Anwesenheit des letzten Beutelwolfs im Zooalltag involviert gewesen war, meldete sich in den 1990ern mit Richtigstellungen zu Wort. Lebendfütterungen stritt sie ab und stellte klar, daß die Pfleger zu keinem Zeitpunkt für das Tier den Namen Benjamin verwendet hatten. Einen Zooangestellten mit dem Namen Frank Darby hatte es niemals gegeben. Tatsächlich taucht sein Name in den Zoounterlagen nicht auf, Lohnzahlungen sind nicht nachzuweisen. Schon 1972 hatte der in den 1930ern für die PR des Zoos zuständige Michael Sharland abgestritten, daß der letzte Beutelwolf jemals Benjamin genannt worden sei.
Den Käfig hatte Darby als viel größer beschrieben als er in Wirklichkeit gewesen war. Statt der von ihm genannten 15 Meter maß das am Hinterausgang des Zoos gelegene Gehege nur 8 × 4 Meter, das tagsüber durch eine kleine Holztür versperrte Schlafquartier gerade einmal 3 × 1 Meter. Hinsichtlich des Geschlechts des letzten Beutelwolfs hatte Darby sich ebenfalls vergriffen: In einer Filmaufnahme des letzten Tiers ist kurz sein Hodensack zu sehen. Um sich der Beweislage zu vergewissern muß man ganz genau hinschauen und wissen, worauf zu achten ist, denn manche Beuteltiere können bei Streß und Gefahr ihren Hodensack einziehen und in einem zweiten, sogenannten Pseudo-Beutel verbergen, während sie ihren Penis ohnehin nur bei Bedarf ausfahren (wie die uns vertrauteren Kater). Es ist offensichlich, daß der letzte Beutelwolf, während ein Eindringling ihn in seinem Käfig filmte und sich umherbewegte, seinen eigenen Bewegungen folgte, unter Streß stand – im Film sieht man ihn zweimal seine Kiefer zu seiner einem Gähnen ähnelnden Drohgebärde aufreißen (und es ist überliefert, daß er unmittelbar nach dem Dreh den Filmenden in den Hintern biß). Das verräterische Indiz ist derart leicht zu übersehen, daß dem Genital erst 2010 ein Zoologe bei Bild für Bild durchgeführter Analyse der Filmaufnahme auf die Schliche kam. Heute aber ist klar: Der letzte Beutelwolf in Gefangenschaft war männlich.
Letzter Beutelwolf, Beaumaris Zoo, Hobart, Dezember 1933
Obwohl Darbys Darstellungen widerlegt und als Lügen (Phantasien?) entlarvt sind, haben einzelne Elemente sich verselbständigt und leben beharrlich fort. Die Anekdote vom verwechselten Geschlecht erweist sich heute noch als für viele Autoren unwiderstehlich, besonders aber der viel länger widerlegte Name Benjamin, Dauerbrenner unter den Fabeln und Legenden um den Beutelwolf. Mal ums Mal werden beide Augen fest zugedrückt, wird die ganze Seifenblase noch einmal auserzählt. Oder es wird schlau erklärt, daß der letzte Beutelwolf nicht wirklich Benjamin hieß, er aber im Text fortan trotzdem Benjamin genannt werde. Worin liegt, mal abgesehen von Effekthascherei, das eigentlich Unwiderstehliche am Namen, den es nie gegeben hat? Ist es die Chance, einem namenlosen Letzten nachträglich noch die humanisierende Namensverleihung hinterherzureichen? Ist es die eigene Humanisierung auf dem Rücken und Schicksal der Kreatur? Was mag Frank Darby, jenen davor und danach nicht öffentlich in Erscheinung getretenen älteren Herrn aus Victoria, dazu bewogen haben, sich mit Federn des lange ausgestorbenen Beutelwolfs zu schmücken?
Darby übernahm interessanterweise auch die erfundene Lautlosigkeit des Beutelwolfs, die zur Verteufelung des Tiers seitens der Schafindustrie immer wieder herangezogen wurde, um seine behauptete Hinterhältigkeit zu unterstreichen. Um einen Wolf wie aus dem Märchen zu kreieren. Er schleiche sich an, ohne Warnung, böswillig, zerstörerisch, seiner Beute, der hilflos aneinandergedrängten Schafherde, in geräuschlosem, also täuscherischem Blutdurst entgegentretend – er gebe vor, überhaupt nicht da zu sein! Der falsche Mythos von seiner Lautlosigkeit war so verbreitet, daß der Beutelwolf in der Überzeugung vieler gar keine Stimme besaß.
Von der Stimme des Beutelwolfs existiert keine einzige Tonaufnahme. Alle Filmaufnahmen wurden tonlos gemacht. Selbstverständlich besaß er sehr wohl eine Stimme. Übrig bleiben von ihr nur die abstrakten fünf verschiedenen Arten von Lautäußerungen, die zu Lebzeiten oder postum von Zeitzeugen beschrieben wurden:
Keuchendes Bellen.
Schnüffelndes, klapperndes Einatmen.
Ondulierendes, klagendes Heulen oder Schreien.
Warnendes Zischen.
Warnendes Knurren.
Es handelte sich beim Beutelwolf nicht wirklich um einen Wolf. Ebensowenig wie ihn seine Bezeichnung als Tasmanischer Tiger zu einem Tiger machte. Stattdessen handelte es sich bei ihm um den einzigen überlebenden Vertreter der Familie der Thylacinidae aus der Ordnung der Raubbeutlerartigen. In seiner ersten wissenschaftlichen Beschreibung war er Hundsköpfiges Opossum genannt worden. Hundsköpfige Beutelratte.
Heute gehört er der sonderbaren Elite ausgerotteter Tiere an, die immer wieder jemand mir nichts, dir nichts wiederentdeckt haben will. Deren Überleben in irgendeinem Winkel, der als Habitat ihren Anforderungen längst nicht mehr genügen würde, in der Regel von Laien willig proklamiert wird, nach angeblichen Sichtungen, denen im besten Falle Verwechslungen mit ähnlichen Tieren zugrundeliegen. Wie der Elfenbeinspecht in den Südstaaten der USA. Dessen ersehnte Fortdauer zuletzt regelrechte Verschwörungstheorien von einer wiedergefundenen und zu ihrer eigenen Sicherheit streng geheimgehaltenen Population entsponnen hat. Dessen Sichtungen aber stets der kleinere Helmspecht zugrundeliegt, dessen Gefieder im Flug von unten gesehen die gleichen, leuchtenden Farben aufweist, allerdings in einer anderen Anordnung. Vielleicht ist der Mensch einfach zu wenig imstande, Spechte richtig zu sehen. Der Schnabel des klopfenden Spechts springt viel zu schnell zurück als daß die einzelnen Schläge gegen das Holz für Menschenaugen zu erkennen wären; stattdessen verschwimmt vor ihnen sein Kopf. Ein Helmspecht liegt auch Woody Woodpecker zugrunde.
Helmspecht. Foto: Josh Laymon / Elfenbeinspecht, 1935. Schwarzweißfoto von Arthur A. Allen, koloriert von Jerry A. Payne
Oder wie in China neuerdings Baiji, der Chinesische Süßwasserdelphin. Ein einst ins Mythische übergehende Wesen, das seit 20 Millionen Jahren, hundertmal länger als es Homo sapiens gibt, im Süßwasser des Jangtsekiang lebte. Das aber im modernen Jangtsekiang, einer der meistbefahrenen, verschmutztesten Wasserstraßen der Erde, voller hundert Meter lang die Strömung mit tausend Haken durchrollenden Langleinen, ebenso weggefischt und zu Handtaschen verarbeitet wie als Beifang ausgelöscht (Aussterben kann kompliziert und widersprüchlich sein), nur bis 2007 durchhalten konnte. Heute wird Baiji von Kreuzfahrtschiffen aus im Glitzern des Sonnenscheins auf dem sich kräuselnden Wasser wiederentdeckt. Früher wurde er oft zusammen mit dem Finnenlosen Schweinswal den Strom durchschwimmend gesehen; der, selbst bedroht, darf heute für den Großteil der Baiji-Sichtungen herhalten. Wer wird eines Tages als Finnenloser Schweinswal herhalten dürfen?
Natürlich gibt es Wiederentdeckungen ausgestorben geglaubter Arten, und auch über die schreibe ich. Auch die werden in meinem Gedichtband vorkommen. Sie sind wichtig. Aber wenn wieder einmal eine Sichtung aus dieser Promi-Riege der charismatischen Lieblinge vermeldet wird ist Skepsis angebracht. Nicht nur weil diese stets zu den eher größeren Tieren zählen, die sich zwar besser als Sympathieträger eignen, hinsichtlich ihrer Lebensräume jedoch allesamt äußerst spezialisiert sind. Das macht ein lange unbemerktes Durchhalten nahe stark menschenbevölkerter Regionen extrem unwahrscheinlich. Die Mathematik des Habitatverlusts ist gnadenlos. Verkleinert sich ein Habitat, bedeutet das auch, daß die Anzahl von Tierarten darin zurückgeht, denn die verbleibende Fläche kann weniger ernähren. Bei einer Verkleinerung um 50 Prozent verschwinden 10 Prozent der Tierarten; eine Verkleinerung um 90 Prozent bedeutet schon für die Hälfte der Tierarten das Aus. Alles hängt letztlich am Habitat. Der Mensch jedoch läßt den Tieren immer weniger davon.
Es fällt mir schwer, diese verspäteten, fehlgeleiteten Begehrlichkeiten als den Tieren selbst gegenüber empathisch zu empfinden. Ich habe eher den Eindruck, daß ihnen ihre Stimme, ihre Autonomie, die Integrität ihres Schicksals postum ein weiteres Mal abgesprochen werden. Vom Menschen eliminiert, stecken sie nun in der neuen Bredouille, ganz zu seinem Belieben und auf Abruf seinen Projektionen untertan zu sein. Ich sehe keinerlei Tröstlichkeit darin, daß ihnen jetzt, in dieser unerwarteten nächsten Zwangsrolle, die Zeit plötzlich nicht mehr davonläuft.
Martha, präpariert 1956 in der Smithsonian Institution ausgestellt