FREQUENZANTEIL 5: VON DER SELTENHEIT (BEKENNTNISSE EINES JAPANISCHEN STRYCHNINESSERS)
Dreiviertel der Arten auf unserem Planeten sind rar.
Obwohl Inseln nur drei Prozent der Landmasse auf der Erde ausmachen, beherbergen sie mehr als die Hälfte der vom Aussterben bedrohten Arten.
Nicht nur, weil auf den relativ kleinen Flächen von Inseln der menschliche Einfluß sich viel unmittelbarer auf Tiere und Pflanzen auswirkt und sie weniger Platz haben, um ihm auszuweichen. Sondern auch weil Inseln von vornherein Ansammlungen des Einzigartigen, des Exzentrischen darstellen. Natürliche Versuchslaboratorien des Extravaganten und Phantastischen. Inseln haben besonders viel zu verlieren. Kostbarstes, das es oft nur dort und sonst nirgendwo gibt.
Ich hatte bereits Recherchen zum ausgestorbenen Hokkaidō-Wolf betrieben und ein erstes Gedicht über ihn geschrieben, als mir das Glück widerfuhr, ein Reisestipendium ausgerechnet auf Japans zweitgrößte Insel Hokkaidō zu erhalten. Das erstmals vergebene yakiuta-Stipedium zielte auf Herausforderung ab, Hokkaidō stand für Neuland, kulturelle Wildnis und, da von Westlichen kaum je bereist, Fremde; daraus resultieren sollte Inspiration. Meine Aufgabe war es, Gedichte zu schreiben, die irgendwann im Rahmen des Stipendiums als kleiner eigenständiger Gedichtband erscheinen werden. Tokio lag des An- und Abflugs wegen ohnehin auf der Route, den weiteren Reiseverlauf konnte ich selbst festlegen. Für mich war plötzlich die willkommene Gelegenheit da, die Arbeitsweisen, die ich entwickelt hatte, in der Praxis einer ausschließlichen Recherchereise auf eine konkrete Inselwelt und Kultur anzuwenden und den dort ausgestorbenen und vom Aussterben bedrohten ebenso wie den endemischen, also nur auf Hokkaidō und nur auf den anderen japanischen Inseln vorkommenden Tierarten nachzugehen. Vor Ort das inselbiogeographische Japan aufzublättern. Es entstand ein Spin-off der Dodos auf der Flucht, ein kleiner Japan-Gedichtband mit 35 Gedichten, der den Titel Wasuremono trägt und im Rahmen des Stipendiums irgendwann, meinetwegen auch gerne erst nach Erscheinen der Dodos, veröffentlicht werden wird. Das Schreiben eilt immer, das Veröffentlichen ist eine ganz andere Angelegenheit. Fragen Sie meine Schubladen. Wasuremono sind Dinge, die man irgendwo vergessen hat. Wörtlich übersetzt Dinge hinter sich gelassen. Die Dinge, die in deinem Herzen verlorengegangen sind. Für mich persönlich liegt der Witz an der Gestalt, zu der mein kleiner Japan-Gedichtband sich ausgeformt hat (ich kann es guten Gewissens so sagen: sich von selbst ausgeformt hat – im Schreibprozess lasse ich meinen Pferden nämlich stets ihre Wildheit und ihre Wirkungsbereiche), darin, daß auch er sich gewissermaßen vergißt, sich liegenläßt wie einen Verlustgegenstand in einem U-Bahn-Waggon, und sich in der immer vertrauter werdenden Fremdheit bestimmter geisterhafter Aspekte der japanischen Kultur verliert.
Japan ist ein Archipel aus 6852 Inseln, derer größte die Hauptinsel Honshū ist. Vielfalt stellt eher die Ausnahme auf Inseln dar; Hawai’i stellte mit seiner Artenvielfalt vor Ankunft der Menschen alles auf den Kopf. Inseln weisen große Lücken in ihrer Besatzung auf, können etwa frei von Katzen, Füchsen sein, deren Nischen dann andere Tiere, beispielsweise Vögel, übernehmen. Inseln können frei von Spinnen sein. Oder völlig frei von Säugetieren wie einst Neuseeland, dessen einziges Raubtier vor Ankunft von Homo sapiens der Haastadler mit seiner Flügelspannweite von drei Metern war, und der aussterben mußte, als der Mensch ihm seine Beute, den gigantischen, flugunfähigen Moa, unter den Krallen weg ausrottete. Inseln sind betont unvollständige Sammlungen apartester Unikate. Jetzt konnte ich in Japan eine solche Inselwelt vor Ort persönlich erforschen gehen.
Lange schon gehe ich in jeder Stadt, in der ich mich aufhalte, ins Naturkundemuseum und in den Zoo. Nicht unbedingt nur gerne. Meine Reaktionen auf diese Orte sind denen vieler anderer nicht unähnlich. Die Museen mit ihren ausgestopften Tieren hinter Glasaugen sind erdrückende Mausoleen, die ebenso sehr auf Unrecht fußen wie sie sich spätestens bei den vertrauten heimischen Tieren in ihren artifiziellen Dioramen als langweilig und völlig überholt outen – welchen Sinn ergeben heute noch bewegungslose Tiere? Schmerzlicher noch, weil live von lebendem, atemholendem Elend erfüllt, sind die Zoos. Die aber erzählen für mich weit mehr von den Menschengemeinschaften in den sie bezwangsherbergenden Städten als von den Tieren in irgendeinem lebhaften oder zoologischen Sinn, der tatsächlich etwas mit ihnen zu tun haben würde. Die Zoos gelten nicht den Tieren, sondern dem menschlichen Blick. Dem, was die Tiere, um dem Menschenblick zu dienen, in ihren Betongehegen erdulden müssen, muß ich als Autor mich, so sehe ich das, aussetzen. Ich habe nicht das Recht, wegzubleiben. Auch diesen Tieren bleibt es in ihrer Bewegungslosigkeit verwehrt, einen ihre Leben erfüllenden Sinn zu ergeben. Wiederum: Als Autor muß ich mich dem unbedingt aussetzen. Ich muß bezeugen, was meine Zeit und die Orte, an die ich reise, ihnen antun. Müßte es, so meine Überzeugung, auch wenn ich nicht über Tiere schreiben würde. Denn die Orte ihrer Gefangenschaft sind menschliche Orte. Es sind Orte der Menschlichkeit. Ich habe noch nie zwei einander ähnelnde Zoos gesehen. Jeder ist perfide einzigartig. Jeder erzählt anderes, entlarvt Neues. (Auch während der Leipziger Buchmesse gehört der Tag im Zoo für mich dazu. Ein wenig Literaturbetrieb draußen an der frischen Luft hat noch niemandem geschadet.)
In Hinblick auf ausgestorbene Tiere sind Naturkundemuseen selbstverständlich unerläßliche Archive. Paradoxerweise insbesondere diejenigen Teile ihrer Sammlungen, durch deren Beschaffung die Museen ebenso wie die Sammlungen, die sie, ähnlich Konzernen, einst geschluckt haben, untrennbar mit der Ausrottung so vieler der von ihnen gezeigten und ungezeigt gelagerten Tiere verknüpft sind und bleiben. Tiere, gegen die der Jagddruck und die Marktgesetze umso stärker anwuchsen und andrängten je seltener sie wurden, weil Sammler und Museen unbedingt noch ihre Exemplare ergattern wollten. Raubkörper. Die Platzhalter geraubter Leben.
Meine Recherchen basieren vor allem auf Büchern, hunderten von Büchern, die ich mit unzähligen Notizen versehe und ausnahmslos zu kaufen gezwungen bin, weil ich sie und das immer weiterwachsende Register meiner Anmerkungen jederzeit zur Hand haben muß, um bei Bedarf sofort suchen, nachschlagen, verifizieren und Spuren weiterverfolgen zu können. Ich muß immer überprüfen können. Die Faktengenauigkeit ist mir wichtig. Sie gehört zu denjenigen Anteilen meiner Gedichte, die das Respektvolle dem Tier gegenüber ausmachen. Zur Fachliteratur über die jeweiligen ausgestorbenen Tiere (es können sich pro Art nur ein oder zwei Bücher oder Scharen und Schwärme von Werken zusammenfinden) kommt hinzu, was ich für mich als Grundlagenforschung bezeichne. Ich halte es für unerläßlich, dem Schreiben etwa über Vögel auch zugehörige Aspekte wie die Physik des Fliegens, die Entstehung des Flugs, die Evolution der Federn als Fundament mitzugeben, selbst wenn diese im Gedicht unsichtbar bleiben sollten. Selbst wenn ich mit diesen lediglich ein Gedicht über einen flugunfähigen Vogel untermauern will. Unspürbar aber werden sie wahrscheinlich eher nicht bleiben. Wenn ich vom schweren Schweigen des Raben schreibe, möchte ich auch die Klänge, die Kolibrifedern im Flug erzeugen, mitschwingen wissen. Den Sturzflug des Wanderfalken möchte ich auf das Gleiten des Flughörnchens beziehen können. Wissenschaftliche Aufsätze, frühe zoologische Literatur, die niemand wiederauflegen würde – die Spuren sind unerschöpflich. Für jede, der ich nachgehe, muß ich etliche liegenlassen. Ich habe die gesamte wissenschaftliche Literatur nach einer Auskunft darüber durchsucht, ob der ausgerottete Karolinasittich links- oder rechtsfüßig war. Ich bin fündig geworden. Solch ein Fund entfesselt in mir einen unbeschreiblichen Rausch. Eine besondere Leidenschaft habe ich für obskure Reiseliteratur, oft nur als Privatdrucke erschienene Memoiren von Seefahrenden etwa, die irgendwo auf einer entferntesten Insel in einer Zuspitzung historischen Zufalls als einzige Person jemals etwas über ein später ausgestorbenes Tier aufgeschrieben haben. Solche Quellen sind als Scans der raren Originale online zum Glück oft auffindbar (und im Gegensatz zu meinen Buchkäufen kostenlos); vor zwanzig, vor zehn Jahren wäre dieser Teil meiner Recherchen nicht realisierbar gewesen. Für Zitate, die ich verwenden möchte, suche ich Quellentexte in ihrer Originalsprache auf und übersetze sie der Präzision wegen selbst; dafür mußte ich mir auch schon mir unbekannte Sprachen wie das Altholländische animprovisieren. Dagegen meide ich, entgegen mich überraschender Annahmen, Wikipedia als Quelle – die Artikel sind unzuverlässig, strotzen oft nur so vor Fehlern, die deutschsprachigen noch viel öfter als die englischsprachigen. Nichts durchsuche ich lieber als ein Lebenswerk nach der einzigen Beschreibung eines verschwundenen Tiers.
Heinrich von Kittlitz, einem deutschen Ornithologen, Naturforscher, Zeichner und Reisenden, gelang im frühen 19. Jahrhundert im pazifischen Raum Mal ums Mal das Kunststück, als Passagier auf Schiffen auf eigene Kosten von Insel zu Insel übersetzend im goldrichtigen Moment am goldrichtigen Ort anzukommen und immer wieder einen der westlichen Wissenschaft unbekannten Vogel zu entdecken, ihn als erster und einziger zu beschreiben und zu zeichnen, bevor auch dieser Vogel sich nach von Kittlitz‘ Weiterreise bald als ausgestorben erwies. Ohne diesen Heinrich im Glück hätte die Zoologie von vielen verschollenen Vogelarten niemals erfahren. Das Kosrae-Sumpfhuhn (auch Karolinenralle genannt) entdeckte von Kittlitz während eines Aufenthalts von Dezember 1827 bis Januar 1828 auf der Insel Kosrae in den östlichen Karolinen im aus über 2000 Inseln und Atollen bestehenden Mikronesien; zu einem unbekannten späteren Zeitpunkt während der folgenden 50 Jahre vermutlich durch auf Walfängerschiffen eingeschleppte Ratten ausgelöscht, hat kein anderer westlicher Wissenschaftler das Kosrae- Sumpfhuhn jemals lebend gesehen. Der Bonin-Kernbeißer kam nur auf der Insel Chichijima in der zu Japan gehörenden Inselgruppe Ogasawara-guntō, auch Bonininseln genannt und 1000 Kilometer südöstlich der japanischen Hauptinsel Honshū gelegen, vor. Von Kittlitz hat ihn als einziger jemals lebend beschrieben. Ich mußte von Kittlitz‘ gesamtes Lebenswerk durchsuchen, um diese einzige Beschreibung schließlich in seinen 1832 erschienenen Kupfertafeln zur Naturgeschichte der Vögel zu finden.
Bonin-Kernbeißer (Fig.2 unten), von Heinrich von Kittlitz
Japan fällt der zweifelhafte Ruhm zu, von gleich zwei Wolfsarten bewohnt gewesen zu sein und sie beide gezielt ausgerottet zu haben. Auf den Inseln Honshū, Kyūshū und Shikoku lebte der Honshū-Wolf, Nihon ōkami, dessen Vorfahren vor langem bei während einer Eiszeit abgesunkenem Meerespegel von der koreanischen Halbinsel her eingewandert waren. Generation um Generation war mit ihm passiert, was auf Inseln angesichts knapper Ressourcen und weniger Raums mit größeren Säugetieren passieren kann: er war immer mehr verzwergt, bis er mit einer Schulterhöhe von kaum mehr als 50 Zentimetern der vermutlich kleinste Wolf der Welt war. Er war trotzdem im Weg. Der letzte Honshū-Wolf geriet Rehe verfolgend am 21. Januar 1905 nahe Washikaguchi ortsansässigen Jägern vor ihre Gewehre und wurde erschossen. Den Kadaver warfen die Jäger auf den Müll und fischten ihn nach zwei Tagen wieder hervor, als sie hörten, daß ein durchreisender Ausländer tote Tiere aufkaufte. Bei dem Fremden handelte es sich um einen für die London Zoological Society und das British Museum of Natural History in Ostasien Pelze und Bälge exotischer Tiere zu beschaffen beauftragten Amerikaner. Heute steht der letzte getötete Honshū-Wolf ausgestopft im British Museum in London. Außer seinem gibt es weltweit nur noch vier weitere ausgestopfte Körper von Honshū-Wölfen, drei in Japan, einen in Holland.
Honshū-Wolf, National Museum of Nature and Science, Tokio 2015, Mikael Vogel
Der Hokkaidō-Wolf, Ezo ōkami, dagegen, historisch vor viel kürzerer Zeit aus Sibirien eingewandert, stand mit seiner Schulterhöhe von 80 Zentimetern nordamerikanischen und eurasischen Wolfsarten in nichts nach. Beide japanische Wolfsarten waren einst verehrt worden, hatten weniger Tiere in einem zoologische Sinn denn ins Mythische übergehende, als Götterboten fungierende, ausnahmslos positiv besetzte spirituelle Wesen dargestellt. Wie hätte es sich bei ihnen auch um tatsächliche physische Entitäten handeln können, wenn die Begegnungen mit ihnen sich darauf beschränkten, sie nachts aus der Ferne in den Wäldern heulen zu hören? Eklatanter hätte der Widerspruch zum westlichen Wolfsbild kaum sein können, besonders auch zu dem in Deutschland, wo man im Mittelalter seine Steuern in Wolfshäuten bezahlen konnte, die Vernichtung des Wolfs also als mindestens ebenso viel wert wie Geld betrachtet wurde. Auch in der frühen japanischen Poesie waren die Wölfe als götterhaft verehrt worden, hatten die Zeilen der Dichter mit wabi, einem spezifisch japanischen, nicht wirklich übersetzbaren Gefühl von Elend, Einsamkeit, Verlorenheit, Vergänglichkeit erfüllt. Indem die Wölfe die Wälder, die heiligen, aber auch wilden, potentiell gefährlichen Gebiete außerhalb des Palastes und der Siedlungen versinnbildlicht hatten, hatten sie den Menschen auf sich selbst und seine Verunsicherung, die Unwägbarkeiten seiner Einbildungskraft zurückgeworfen. Was ist passiert? Wie kam es zur Kehrtwende um 180 Grad zur systematischen totalen Auslöschung? Die Antwort hat mit dem Ende von Japans Isolation, mit dem Westen und Japans Hinwendung zur Moderne zu tun.
Jetzt saß ich im Schnellzug nach Sapporo, um dort die beiden einzigen noch existierenden ausgestopften Körper von Hokkaidō-Wölfen zu sehen. Dank der Hilfe meines in Berlin lebenden japanischen Freunds Takuya (geboren in Fukushima und aufgewachsen auf – erraten Sie es? – Hokkaidō), der online auf etlichen Homepages japanischsprachige Verzeichnisse und Auflistungen für mich nach denjenigen Tieren, die ich sehen wollte, durchsucht hatte, war ich mit einem großen Itinerar der entlang meiner Reisestrecke liegenden Zoos und Museen mit lebenden und ausgestopften endemischen Tierarten auf meine Reise gegangen. Ich hatte schon viele Tiere gesehen, die es nur hier gab oder gegebeben hatte. Ich würde noch viele weitere sehen (und später erst begreifen, wie marginal, wie nahezu inexistent die meisten von ihnen in der Sicht der auch postkolonial immer noch stark herablassenden westlichen Zoologie waren). Die Expedition zu den letzten beiden Hokkaidō-Wölfen jedoch stellte schon im voraus den Höhepunkt meiner Japanreise für mich dar.
Die Szene, die mich im kleinen, unscheinbaren Museumsgebäude in den üppigen Tiefen des Botanischen Gartens der Universität von Sapporo erwartete, in einem pastellen limettengrünen Holzhaus wie aus einer Westernstadtkulisse, ohne Aufschrift, ohne jeden äußeren Hinweis darauf, daß in ihm das alte, wilde, das heilige unheimliche Hokkaidō in zwei erstarrten Leichnamen endend ausgestellt war, stellte sich als entlarvend heraus. Sie legte bloß, wie sehr auch für die Ausrottung gilt, daß die Geschichte stets in der Gefahr steht, allein von den Siegern verfaßt zu werden.
Hokkaidō-Wölfe, Botanischer Garten der Universität von Sapporo 2015, Mikael Vogel
Es ist verwunderlich, daß ausgerechnet in der animistischen japanischen Kultur, in der Spielzeug, Puppen und sogar Gebrauchsgegenstände wie Töpfe und Pfannen als beseelt angesehen werden, einst verehrte Lebewesen derart zu Objekten bedingungslosen Ausradierungswillens werden konnten. Puppen werden in Japan auch heute noch nicht in den Müll geworfen, sondern im Ritual des ningyo kuyo, des Puppenbegräbnisses, in einem Tempel zeremoniell eingeäschert, um die im Stich gelassenen Wegbegleiterinnen und Vertrauten zu besänftigen. Im Ueno Park in Tokio kann man an jedem 25. September dabei zusehen, wie am Tempel Kiyōmizu Kannon-dō das Jahr über von um Erfüllung ihres Kinderwunsches ersuchenden Frauen als Opfergaben abgelegte Puppen und Plüschtiere von Mönchen verbrannt werden. Jedes Artefakt, so ein alter Glaube, entwickle ab einem Alter von symbolischen 99 Jahren eine Seele; sobald es nicht mehr benutzt werde fange es an zu spuken. Es kann sich um einen alten Hut, einen abgetragenen Anzug, eine Kommode, eine Zange, Opas Kindheitsfahrrad oder auch um eine VHS-Videokassette, die einsame Nachzüglerin aus den Reihen einer ausgestorbenen Technologie, handeln. Seine Wurzeln hat dieser alte Glaube in der nur in Japan praktizierten Naturreligion Shintō, derzufolge nicht nur der Mensch beseelt ist, sondern alles Lebende ebenso wie alles Unbelebte eine Seele in sich tragen kann.
Trotzdem werden auf japanischen Inseln die Habitate bedrohter endemischer Tierarten wie dem Amami-Kaninchen und der Okinawaralle auffallend wiederkehrend für den Bau von Golfplätzen und Ferienanlagen zerstört. Obwohl die Tiere gesetzlich unter Schutz stehen. Weil die Habitatzerstörung, so die Argumentation, die Tiere nicht direkt töte, sei diese legal.
Während dreiviertel der Arten auf unserem Planeten rar sind, machen die anderen 25 Prozent der Arten Schätzungen zufolge zwischen 90 und 95 Prozent aller Individuen auf der Erde aus.
Welche Bedeutung aber sind wir dem überraschenden Fakt, daß die Lebensvielfalt in der Welt um uns herum eine der Seltenheiten ist, einzuräumen bereit?
Wollen wir daraus ableiten, daß sie alle, die vielen Seltenen, in Folge also verzichtbar seien? Für das Verschwinden vielleicht sogar prädestiniert und ihr Verlust also egal?
Oder wäre es möglich, daß von Menschenseite her eine größere Aufmerksamkeit, Sensibilität und Zurückhaltung dringend notwendig wäre?