Sonagramme aus der Aussterbewelle

FREQUENZANTEIL 4: VERABREDUNG ZUM UNTERGANG AM GREAT BARRIER REEF

 

Alfred Russel Wallace gebührt der Ruhm, unabhängig vom seit zwanzig Jahren an seiner Evolutionstheorie arbeitenden, mit ihrer Veröffentlichung aber zögernden Darwin der natürlichen Auslese ebenfalls auf die Schliche und Darwin mit der Publikation um ein Haar zuvorgekommen zu sein. Aus dem fernen Malaiischen Archipel, wo er seit Jahren auf Reisen seine Studien betrieb, schickte er ausgerechnet Darwin seine Theorie zur Entwicklung der Arten zur kritischen Durchsicht und jagte ihm den Schrecken seines Lebens ein. In London hatte sich ein Dilemma ergeben. Die von Vertrauten Darwins initiierte Lösung war keine faire. Beider Theorien wurden gleichzeitig während der nächsten Sitzung der Londoner Linné-Gesellschaft 1858 der Öffentlichkeit präsentiert, Darwins unter Betonung ihres Vorrangs, Wallaces ohne dessen Wissen oder Erlaubnis und in seiner Abwesenheit. Er sammelte, während in London vor nur dreißig oder vierzig Zuhörern die Sitzung stattfand, in Neuguinea nichtsahnend Schmetterlinge und Vögel. Darwin mußte zwar einer Erkrankung in seiner Familie wegen ebenfalls fernbleiben, hatte aber Fürstreiter vor Ort; ob er selbst Einfluß nahm ist unbekannt und umstritten, Dokumente sind verlorengegangen oder vernichtet worden. Darwin hatte jedenfalls dazugelernt und sputete sich jetzt mit der Fertigstellung von On the Origin of Species, dessen Erscheinen ein Jahr später endlich sein Territorium absteckte, während Wallace am anderen Ende der Welt seine Reisen und Studien zur Inselbiogeographie, als deren Begründer er gilt, fortsetzte, die Artenvielfalt auf Inseln und sie beeinflussenden Faktoren untersuchend. Die Idee der natürlichen Auslese war ihm auf den Molukken zwischen Fieberschüben, bei 31°C in Decken eingewickelt, gekommen. Mit Schüttelfrost hatte er seine Theorie in zwei Stunden fast ganz entwickelt, an den folgenden drei Abenden niedergeschrieben und mit der nächsten Post an Darwin geschickt gehabt.

Das war Alfred Russel Wallace.

Auch das war Alfred Russel Wallace: Sein 1869 erschienenes, von seinen Reisen und Studien im südlichen Malaiischen Archipel zwischen 1854 und 1862 berichtendes Buch The Malay Archipelago beginnt Wallace mit Zahlen. Er führt auf, wieviele Tiere er bei seiner Rückkehr nach England in den Packkisten vorfand, die er von Zeit zu Zeit nach Hause vorausgeschickt hatte: fast 3000 Vogelbälge von etwa 1000 Arten, mindestens 20000 Käfer und Schmetterlinge von etwa 7000 Arten, daneben einige Vierfüßer und Schneckenhäuser. Ein paar Seiten weiter wartet Wallace mit einer ausführlicheren Auflistung seiner unterwegs zusammengetragenen Sammlung toter Tiere auf, zumindest derjeniger, die in gutem Zustand zuhause angelangt waren, und kommt auf noch höhere Zahlen: 310 Säugetiere, 100 Reptilien, 8050 Vögel, 7500 Muscheln, 13100 Schmetterlinge und Falter, 83200 Käfer, 13400 andere Insekten. Insgesamt, faßt Wallace zusammen, 125660 „naturhistorische Exemplare“, wie er sie nennt.

Solche Schleppnetze füllten die noch junge Wissenschaft der Zoologie mit den Grundlagen ihres Wissens an. Füllten Schubladen und Schränke der Museen mit ihren vielen, vielen Präparaten an. Füllten ungezählte Kabinette von Sammlern mit Genugtuung und Distinguiertheit an. Solche Schleppnetze füllten auch die jungen Zoos Europas mit denjenigen Tieren an, die den Kontinent lebend erreichten. Sobald dann Zootiere oder Sammler starben füllten neue Schubladen und Schränke in den Naturkundemuseen sich mit noch mehr Präparaten an.

Roualeyn Gordon-Cumming, ein schottischer Großwildjäger zu einer Zeit, in der Großwildjäger noch imperiale Macht und die Bezwingung der Natur verkörperten, trug so viele Jagdtrophäen und ausgestopfte Tiere zusammen, daß das Gewicht seiner Sammlung, als sie auf der Londoner Industrieausstellung 1851, der ersten Weltausstellung, präsentiert wurde, mehr als 21 Tonnen betrug.

Es raffte Tiere wer konnte.

Jährlich, so eine auf Fangstatistiken von 1999 bis 2007 basierende Schätzung, tötet der Mensch 2,7 Billionen Fische. Nicht berücksichtigt sind in dieser Zahl illegale Fänge, ins Meer wieder zurückgeworfene Beifänge, nach der Flucht aus einem Netz gestorbene Fische, zur Verfütterung in der Aquakultur gefangene Fische, zur Verwendung als Köder gefangene und nicht verzeichnete Fische sowie die Opfer von Freizeitfischerei. Ebenfalls unberücksichtigt bleiben die in losgerissenen, aufgegebenen Geisternetzen verendeten Fische.

Es raffe Tiere wer kann!

Die Mathematik der Ausrottung ist eine noch sinistrere als die der Plünderung.

Bricht eine Tierpopulation zusammen, scheinen auch die Zahlen selbst in eine Art Volatilität auszubrechen, wie Aktienkurse während eines katastrophalen Börsencrashs – als ginge ihnen plötzlich ihre fundamentale Tragfähigkeit verloren. Als funktionierten Zahlen, wie Tierarten, nur in angemessenen Schwärmen und Herden.

In kleiner Zahl lebt es sich prekär. Ein einziger Krankheitsausbrauch, ein Hurrikan kann ausreichen, um die Letzten, die viel zu nah am Abgrund durchhalten und sich irgendwie oben festklammern müssen, auch noch auszulöschen. Das Leben in zu kleiner Zahl kann zu wenig Leben für ein Überleben in sich tragen. Für manche Tierarten gilt das noch stärker als für andere. Die letzten Wandertaubenschwärme in den finalen Jahren des 19. Jahrhunderts, ein Dutzend Vögel hier, sechzig da, dann wieder irgendwo die Sichtung von nur zweien (allesamt unvermindert vehement weiterbejagt), dürften sich, gemessen an ihren früher die Himmel verdunkelnden Ausdehnungen, nicht nur von außen betrachtet wie kümmerliche Reste ausgenommen haben. Sie könnten sich durchaus auch selbst als solche wahrgenommen haben. Immerhin war 1871 noch die größte jemals bekanntgewordene Nistkolonie, 1878 aber schon die letzte große Nistkolonie und vier Jahre später bereits die letzte im Millionenbereich verzeichnet worden. Im Sturzflug erreichten die Wandertauben jetzt Schwarmgrößen, in denen sie, wird vermutet, nicht nur außerstande waren, genug Nachwuchs für die Aufrechterhaltung der für sie erforderlichen Populationsdichten zu produzieren, sondern die den Nistdrang in ihnen schon gar nicht mehr auszulösen vermochten. Tauben reagieren weit weniger auf instinktive denn auf perzeptive Niststimuli. Es scheint, daß der Fortpflanzungsdrang bei den Wandertauben sich erst inmitten enormer Kolonien einstellte. Das war tatsächlich für lange Zeit mit unschlagbaren Vorteilen für die Tiere verbunden gewesen. Die Nistkolonien hatten, bis es zur Bejagung durch die Menschen gekommen war, durch ihre schieren Massen dem einzelnen Vogel beim Brüten stets einen nahezu gewissen Schutz geboten. Setzten die Wandertauben das Brüten aus, weil sie sich nicht mehr sicher fühlten? Stellten sich von Tag zu Tag, von Ort zu Ort einfach nur die richtigen Bedingungen nicht ein, oder war etwas Grundlegenderes eingebrochen? Kam ihr Nichtbrüten einer Abkehr gleich? Vögel drehen dem Menschen nicht selten dieses schwarze Schultergefieder der Verweigerung zu – so viele letzte einer Art, irgendwo in Käfige verbracht, die die von außerhalb ihrer Käfige händeringend erwartete Paarung im Angesicht des nahenden Endes ausschlugen. The killer in you is the killer in me.. Die letzten Wandertauben, die Übriggebliebenen in ihren Schwarmfragmenten, inzwischen hätten sie womöglich selbst im Falle eines Waffenstillstands seitens ihrer menschlichen Gegner nicht mehr zur Erhaltung ihrer Art ausgereicht.

Von einem Waffenstillstand aber konnte ohnehin nicht die Rede sein.

Bejagung vorüberziehender Wandertauben, von Smith Bennett, Juli 1875 in The Illustrated Sporting and Dramatic News (Quelle: http://phenomena.nationalgeographic.com/files/2014/06/pigeons-1200.jpg)


Ist erst einmal nur noch ein einziges überlebendes Individuum übrig, kann der dümmste Zufall es ausradieren. Und mit ihm seine ganze Art. Das Aussterben offenbart dann gelegentlich seinen sonderbaren Sinn für Humor.

 

 

Die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte, die auf einem kleinen Plattformriff an der Nordspitze des Great Barrier Reef lebte, wurde im April 1845 von Europäern entdeckt als die HMS Bramble dort anlegte. Zum Zeitvertreib wurde sie von der Besatzung des Schiffs mit Pfeil und Bogen geschossen. Anfang des folgenden Jahrhunderts erst wurde sie anhand eines im Mai 1845 auf der HMS Fly mitgenommenen Exemplars wissenschaftlich beschrieben. Nicht daß ihre wissenschaftliche Beschreibung Tieren unbedingt förderlich wäre – sie kann im Gegenteil unmittelbar ihre Gefährdung einläuten indem sie neben Zoologen auch Händler und Jäger auf ihre Existenz aufmerksam macht und ihnen preisgibt, wie rar und wo sie zu finden sind. Der Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte blieb zumindest diese Form der Aufmerksamkeit erspart. Sie war nur eine weitere Ratte, Australiens isoliertestes Säugetier und das einzige endemische Säugetier auf ihrem Riff.

 

Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte (Melomys rubicola). Foto: Ian Bell


Ich stieß auf die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte 2012 bei meinen Recherchen. Im Oktober 2012 schrieb ich die erste Fassung eines Gedichts über sie, und verfolgte ihr Schicksal fortan mit. Vom IUCN auf der Roten Liste als vom Aussterben bedroht geführt, war ihr nahendes Ende angesichts des steigenden Meerespegels aber eher eine Gewißheit als eine Bedrohung.

 

„GLOBAL WARMING–a total hoax!“, Donald Trump, Twitter, 25. Januar 2014.

Im Manuskript meines entstehenden nächsten Gedichtbands Dodos auf der Flucht eröffnete die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte das letzte Kapitel, das sich insbesondere vom Aussterben bedrohten Tierarten zuwendet. Isoliert, dem immer höher ansteigenden Meer ausgeliefert, konnte es keine klaustrophobischere Verkörperung für die heranrückende Klimakatastrophe und das sich entfaltende Artensterben als sie geben.

Obwohl ihre Notlage so aussichtslos wie lange bekannt war, und obwohl 1998 bereits ein Populationseinbruch von 1978 mehreren hundert auf nur noch geschätzte 93 verzeichnet worden war, sind jahrzehntelang niemals Individuen für die Erhaltung ihrer Art durch eine in Sicherheit befindliche Population in einer Schutzanlage oder in einem dem Artenschutz verschriebenen Zoo eingesammelt worden.

Darüber hinaus waren die 1998 geschätzten 93 verbleibenden Tiere lediglich auf Basis von 42 zum Zählen kurzzeitig eingefangener Tiere hochgerechnet worden. Niemand weiß, ob es damals wirklich noch so viele waren. Ob es auch nur annährend so viele waren.

Um mit dem gegenwärtigen globalen Temperaturanstieg mithalten zu können, so eine Kalkulation, müßten Tiere und Pflanzen täglich zehn Meter in Richtung des für sie nächstliegenden Pols migrieren.

„The concept of global warming was created by and for the Chinese in order to make U.S. manufacturing non-competitive“, Donald Trump, Twitter, 6. November 2012.

Mein Gedicht mußte ich schließlich aus der bedrohten Gegenwarts- in die finale Vergangenheitsform umschreiben als die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte im Juni 2016 für ausgestorben erklärt wurde.

Ernüchternder war das Tempus nie.

Das Tempus muß der größte Serienkiller auf diesem Planeten sein. Der einzige noch größere als der Mensch. Er nimmt unserer Gegenwart unsere Ahnen, sägt unsere Stammbäume ab und dezimiert rings um uns die Arten, sägt ihre Stammbäume ab.

In meinem Manuskript eröffnet das Gedicht noch immer das letzte Kapitel. Mit einem lebenden Tier von den bedrohten Arten zu sprechen zu beginnen wird dem letzten Kapitel, das ohnehin eine Zuspitzung darstellt, nun verwehrt bleiben. Es dürfte dadurch dunkler geworden sein. Das Wasser jedenfalls steht inzwischen höher.

2016, melden in diesen Tagen die Nachrichtenagenturen, ist das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1880 und mit großer Wahrscheinlichkeit das wärmste Jahr in den vergangenen 115000 Jahren gewesen.

Die Forscher, die die weiche Ratte auf dem Bramble Cay nach mehreren vergeblich gebliebenen Suchexpeditionen in einem wissenschaftlichen Artikel für ausgestorben erklärten, gaben als Ursache für ihr Verschwinden Überflutungen, aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Überflutungen im Lauf des vergangenen Jahrzehnts, an, welche dramatischen Habitatsverlust verursacht und möglicherweise auch direkte Todesopfer gefordert hatten. Es handle sich aller Voraussicht nach um die erste dokumentierte Ausrottung eines Säugetiers durch den vom Menschen verursachten Klimawandel.

 

 

 


Meiner Mutter Vesselina Vogel, 21. Mai 1945 – 27. Januar 2017, gewidmet.
Schmerzhafter war das Tempus nie.

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Category: Allgemein, BlackBox
Published on: 6. Februar 2017
Erstellt von Verlagshaus
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