FREQUENZANTEIL 3: FEAR AND LOATHING AUF HAWAI’I
Üppige Wälder. Fruchtbare Täler. Keine Giftschlangen. Keine Ameisen. Keine Mücken. Keine Raubtiere. Nur zwei Säugetierarten: eine Fledermaus und eine Robbe. Die Pflanzen kamen fast ganz ohne Dornen oder Gifte aus, brauchten sich gegen niemanden zu verteidigen.
Die Hawai’ische Inselkette ist das vom Festland entfernteste aller Archipele. Sie ist vulkanischen Ursprungs, eine Versuchsanreihung immer neuer, über dem hawai’ischen Hotspot entstehender, dann von der Pazifischen Platte durch das Meer getragener und am anderen Ende in der unvorstellbaren Langsamkeit geologischer Prozesse wieder in den Fluten versinkender Lebensräume. Die Inseln legen auf ihrer Fahrt durch die Wellen 11 Zentimeter pro Jahr zurück, reisen doppelt so schnell wie menschliche Fingernägel wachsen. Die älteste ist seit 28 Millionen Jahren unterwegs, es ist schon nicht mehr viel von ihr übrig. Die jüngste, die Hauptinsel Hawai’i, ist noch nicht voll ausgeformt und erst 400.000 Jahre jung – das ist immerhin doppelt so lang wie es Homo sapiens gibt. Dem hat ein Bruchteil dieser Zeit ausgereicht um zu zerlegen, was sich so geduldig herangebildet hatte. Aus dem Weltall sehen die Inseln wie ein sich zunehmend ausdünnender Drip-Painting-Spritzer von Jackson Pollock aus.
Hawai’ische Inselkette, Satellitenbild, NASA
Wind und Wetter ließen an den verschiedenen Seiten der steilen Vulkanhänge durch ihren Einfluß auf Boden und Vegetation auf kleinstem Raum die unterschiedlichsten Habitate entstehen. Tiere kamen an. In der unvorstellbaren Ausdehnung evolutionärer Zeiträume sammelte sich Leben an. Noch die abgelegensten Inseln auf dem Planeten haben dann und wann die Ankunft zufällig Herbeigetriebener, auf Ästen, Baumstämmen oder Landschollen Angeschwemmter erfahren, die unter günstigen Bedingungen und mit viel, viel Glück sich nicht nur an Land zu retten, sondern anzusiedeln, vermehren und auszubreiten vermochten. Vögel, von Stürmen während ihrer Migration auf offener See verweht am Rande ihrer Kräfte auf Hawai’i treffend, fanden sich plötzlich in paradiesisch gefahrenlosen, konkurrenzfreien Habitaten wieder. In Millionen von Jahren, sich auf die vielen unbesetzten Nischen auf den Inseln spezialisierend, strahlten sie zu einer Artenvielfalt aus wie sie unter Vögeln nirgendwo sonst auf der Welt vorkam.
Der Ärger fing mit den ersten Menschen an, Polynesiern, die um das Jahr 400 anlegten, Schweine, Rinder, Ziegen, Schafe, Hunde, Ratten mitbrachten und damit begannen, die Wälder für Ackerflächen brandzuroden, während ihre freilaufenden Tiere durch Abweiden, Zertrampeln, Wegessen den Terror eingeschleppter Arten zu verbreiten begannen. Dann kamen die Europäer an. Als James Cook die Inseln 1778, wie stets aus europäischer Sicht gesagt wird, entdeckte, fand er sie bereits von den Tiefebenen bis hoch in die Gebirgsausläufer mit Bananen-, Brotfrucht- und Zuckerrohrplantagen überzogen. Europäische und amerikanische Plantagen kamen dazu, auf durch immer neue Brandrodungen gewonnenem Boden, Zuckerrohr und Ananas die kolonialistischen Exportschlager während immer mehr eingeschleppte Tiere, Pflanzen, Mibroben die Verdrängung eingesessener Arten fortsetzten.
Heute befinden die pflanzlichen und tierischen Ureinwohner Hawai’is sich in der Unterzahl und auf dem Rückzug. Fast alles was leicht zu finden, leicht zu sehen oder hören ist stammt von anderswo her. Die im frühen 20. Jahrhundert zur Gartenverschönerung aus Afrika eingeführte Große Achatschnecke, eine der enormsten Landschnecken der Welt, sah es unter ihrem konischen, rechtsgewunden spitz zulaufenden majestätischen Haus nicht ein, sich auf Hawai’i mit Pflanzen als Nahrung zu begnügen, sondern, das Klima machte Appetit, begann sich über das reich vorhandene tierische Protein herzumachen und einheimische Schneckenarten auszulöschen. Zur Bekämpfung der Großen Achatschnecke wurde 1955 die weniger attraktive räuberische Rosige Wolfsschnecke eingeführt. Aber auch sie scherte sich nicht um die ihr zugedachte Kost und futterte sich lieber ihren eigenen Weg durch das Buffet einheimischer Schneckenarten. Sonst in den südöstlichen USA und im tropischen Zentralamerika zuhause, setzte sie in ihrem neuen Wirkungsgebiet eine regelrechte Aussterbelawine in Gang. Weil sie sogar Artgenossen genüßlich verschlingt wird sie auf Hawai’i Kannibalenschnecke genannt. Sie hat Angst und Schrecken verbreitet und fast alle der ursprünglich 800 hawai’ischen Schneckenarten ausgerottet.
Die invasive Ameise Pheidole megacephala hat die meisten Insektenarten in den Tiefebenen, einschließlich vieler, die als Bestäuber für die einheimische Flora dienten, ausgemerzt. In Deutschland kann man sich Pheidole megacephala übrigens kolonienweise als Ameisenfarmen online nach Hause bestellen. Sie sind, lese ich in einem Forum hinsichtlich ihrer Haltung, „als Ausbruchskünstler bekannt“. Der aus Purto Rico eingeschleppte Höhlen-Pfeiffrosch verdirbt mit seinen lauten Rufen immerhin die Immobilienpreise ganzer Wohngegenden. Sogar die lei aber, die Blumenkette, die Touristen bei der Ankunft auf Hawai’i als Willkommensgruß um den Hals gelegt wird und jedem, der noch nie einen Fuß auf Hawai’i gesetzt hat, dennoch aus Filmen vertraut ist, wird bezeichnenderweise aus eingeschleppten Blumenarten gemacht. Früher wurde die lei unter anderem auch aus aufgefädelten Schneckenhäusern inzwischen ausgestorbener Schneckenarten hergestellt. Hawai’i ist von vielen Gespenstern bewohnt. Bei den üppigen, blühenden Grüns der Bergschluchten ebenso wie der küstennahen Tiefebenen und unteren Bergausläufer handelt es sich um trügerische Fassaden, um ein einziges Potemkinsches Trauminsel-Archipel. Dahinter spukt das Alte hervor. Auf Hawai’i noch Hawai’i finden zu wollen bedeutet längst, sich auf biogeographische Bruchrechnung einzulassen.
Das Vogelsterben auf den Inseln Hawai’is allein in den vergangenen 700 Jahren stellt eine weltweit vergleichslose Katastrophe dar. Mindestens 77 Arten und Unterarten sind verschwunden. Das entspricht, auf den insgesamt nur 28 Quadratkilometern aller Inseln, 15 % der bekannten Ausrottungen auf dem gesamten Erdball. Zum Vergleich: Die Aussterberate von Vögeln ohne den Menschen würde, so eine hoch ausfallende Schätzung, eine ausgestorbene Art pro 400 Jahren betragen. Demzufolge wären ohne den Menschen in den vergangenen 700 Jahren weltweit nur ungefähr zwei Vogelarten ausgestorben. Auf Hawai’i stattdessen sind mindestens 24 weitere Arten und Unterarten aktuell vom Aussterben bedroht; nicht wenige stehen an ihrem Abgrund mit Populationen von weniger als 150 Individuen.
Die ausgestorbenen Vögel Hawai’s üben, neben dem Dodo, die größte Faszination auf mich aus. Sind das mir liebste rote Fadenknäuel in meiner Recherche- und Schreibarbeit. Der erste Flirt, die erste Anziehung entsprang ihren onomatopoetischen Namen: Ōʻūʻ, ʻIo, ʻAlauahio, ʻIʻiwi, ʻAmaui. ʻĀkepa. Nukupuʻu. Ein bedrohter Seevogel heißt sogar einfach nur A. Ihre onomatopoetischen Namen sprechen oft ihre Rufe nach, wie etwa im Fall des ʻŌʻō.
Hawaiʻi-ʻŌʻō, von John Gerrard Keulemans, 1893
Der ʻŌʻō kam auf den Inseln Hawai’is einst in diversen Unterarten vor. Reizvoll ist sein Name mir im Schriftbild nicht zuletzt der völligen Unklarheit wegen, die diese Transkription in Hinblick auf den Sound seines Rufs zurückläßt. Handelt es sich um eine steigende oder um eine fallende Melodie? um einen selbstbewußten Auftritt? sich in einem fordernden Tonfall präsentierend? seinen Platz im Geäst und in der Welt behauptend? Oder doch um ein eher zaghaftes, tastendes, fragendes Oh-oh? Oder ein vor sich hinerzählendes, in gleichbleibender Tonhöhe? Zitiert der ʻŌʻō etwa humorvoll den Rain Man? Zumindest beschloß ich, seinen in meinem folgenden Gedicht eingearbeiteten Ruf in Lesungen an den Rain Man anzulehnen.
Ein weiterer Flirt, eine zweite Anziehung liegt für mich in den originalen hawai’ischen Schreibweisen. In den belebenden Schwärmen von Strichen und Balken vor, zwischen und über den Vokalen. Im Englischen und Amerikanischen, den Sprachen von Kulturen, die Hawai’i von Anbeginn an mit kolonialistischem Blick und Gefälle gegenübertraten, werden diese in der Regel nicht übernommen und haben so auch das Deutsche nicht erreicht, wie man etwa der gängigen Schreibweise Hawaii ansehen kann. Die für mein Auge längst eklatant falsch, grob, verweigerungsvoll aussieht.
Der Apostroph, mit dem die hawai’ische Verschriftlichung des Namens ʻŌʻō beginnt, heißt ʻokina und ist ein eigenständiger Buchstabe, der eine kurze Pause wie die im Namen der norwegischen Band a-ha bezeichnet. Der Balken über den beiden Vokalen, die als Laute faszinierenderweise im Hawai’ischen völlig ausreichend sind um dem ʻŌʻō seinen Namen zu verleihen, heißt kahakō und teilt uns mit, daß es sich bei beiden um lange Vokale handelt. Konsonanten klingen immer mit dem nächsten Vokal mit. Alles dreht sich um die Vokale. Beim Hawai’ianischen handelte es sich um eine orale Sprache, bevor sie von Cook und seiner Mannschaft 1778 erstmals aufgezeichnet wurde, und das merkt man den Namen der Tiere an. Und nun, verehrte Leserinnen und Leser, folgen die für mich schönsten Regeln, die ich jemals in der Grammatik irgendeiner Sprache habe auffinden können. (Ich bezweifle sogar, daß ich Grammatik vor meinem folgenden Fund jemals als schön habe empfinden können.)
1. zwei Konsonanten stehen niemals nebeneinander!
2. auf jeden Konsonanten folgt mindestens 1 Vokal!
3. jede Silbe endet in einem Vokal!
4. alle Wörter enden in Vokalen!
Die Ausrufezeichen, muß ich natürlich gestehen, stammen von mir. Entstammen, wie diese kurze Liste, meinen handschriftlichen Notizen zur Linguistik Hawai’is, und spiegeln meine eigene Begeisterung angesichts dieses Funds wider, der mich eher an ein ʻōʻō-dadaistisches, ein ʻōʻō’istisches Manifest für die Entfesselung von Lautpoesie als an ein grammatisches Regelwerk erinnert. Es lebe der ʻŌʻōismus!
Man kann ein beeindruckendes Grad an Intimität mit der Umgebung daraus hervorspüren, daß eine Menschensprache sich ihrer lokalen Tierwelt derart anzuschmiegen vermag. Ihren Lauten, ihren Stimmen. Als könnten Mensch und Tier zumindest linguistisch einander für einen tröstlichen, rührenden Moment in Frieden gegenüberstehen.
Doch der Frieden kann auf beiden Seiten trügen. Ausrottung geht nicht selten Hand in Hand mit Bedrohung auch für die vor Ort mit Flora und Fauna ob recht, ob schlecht verwobenen Menschen einher. Im Amazonas-Regenwald, wo durch Brandrodung Tag für Tag ein enormes Stück der größten Artenvielfalt, die es in vier Milliarden Jahren Leben auf der Erde jemals irgendwo gegeben hat, unwiederbringlich verschwindet, bedeutet die fortwährende Verwandlung üppiger Vegetation in endlose, ausgelaugte Mondlandschaft auch die unaufhörliche Vertreibung der Menschen, die in ihr ihre Existenz zu bestreiten suchten. Am unteren, älteren Ende einer ständig durch Flüchtlinge aus den Städten auf der Suche nach Errettung in einer Kleinbauernexistenz neu durchmischten Hierarchie von Kolonialisten in den Randgebieten des Regenwalds gehen Kultur, Traditionen, Sprache und intime Naturkenntnis immer mehr verloren. Geht verloren, was einmal indogene menschliche Identität angesichts der Natur war.
Der Kolonialismus auf Hawai’i entfaltete seine Kräfte zeitgleich mit dem drastischsten Vogelartensterben der neueren Zeit. Habitatzerstörung bedeutet nicht erst seit Beginn europäischer Einflußnahmen in der Welt unter dem rasch anwachsenden Schutzschirm immer globaleren Handels auch Auslöschung lokaler menschlicher Kultur. Mit Unterdrückung und Verdrängung lokaler Sprachen und Dialekte geht auch der Verlust der in diesen gespeicherten Erfahrungs- und Erkenntnisschätze einher. Mensch und lokale Ökosysteme sind verwoben. Eng verwoben.
Großer ʻAmakihi, von John Gerrard Keulemans, Ende des 19. Jh.s