Mikael Vogel / Sonagramme aus der Aussterbewelle

FREQUENZANTEIL 1: DIE REDE DER GESPENSTER

Seit fünf Jahren pflege ich Umgang mit Gespenstern.

Ich habe den Verdacht, daß mein Schreibtisch eine gewisse Mitschuld daran tragen könnte. Ich erhielt ihn vor langer Zeit, als ich gerade erst mit dem Schreiben begonnen hatte, aus einem Nachlaß. Sein Vorbesitzer war Zoologe und, brisanteste Kombination, bis zu seinem Tod bei einem Pharmakonzern angestellt gewesen. Das kann nur Tierversuche bedeuten. Mein Schreibtisch ist ausladend, massiv, ein wahres Habitat, mit Stauraum für Berge von Manuskripten. Er ist bei weitem mein schwerster Besitz. Die Jahre meines Schreibens haben in den Bewegungsradien meiner Arme Farbe und Lack abgetragen, mein Schreibarm hat die Tischkante abgeschleift, das Holz freigelegt und, wo er am häufigsten aufliegt, eine Kuhle eingegraben. An diesem Tisch lassen sich Orkane aussitzen. Was aber weiß mein Schreibtisch von Orkanen? Hat er unter seinem breiten Rücken Muskelerinnerungen? Sitze ich an einem Objekt, das aufgrund seiner Vorgeschichte, der Mitbeteiligung am Leiden von Tieren, seine eigene Perspektive, seinen eigenen Willen entwickelt hat? Im Lauf (im Traben, Hoppeln, Schreiten, Kriechen, Schwimmen, Fliegen) der Jahre womöglich sogar Einfluß darauf genommen hat, welche Inhalte, welche Dringlichkeiten mein Schreiben aufsuchen?

Ein Portal nicht nur in das Leben der Tiere, sondern auch in das Unrecht, das ihnen angetan wird?

Zumindest bin ich mir sicher, daß sein früheres Komplizentum ethische Konsequenzen für mein Schreiben gehabt hat. Ich kam im Schreiben vom Mensch zum Tier. Zu den menschlichen Themen kamen mehr und mehr die der Tiere hinzu. Das Seltsame: Wenn man von Tieren schreibt, nehmen viele an, daß man also selbstverständlich nicht über Menschen schreibe, das Thema Mensch sogar meide, ihm in Eskapismus gegenüberstehe, oder eben statt ihm gegenüberzustehen schnurstracks vor ihm davonlaufe. Nichts aber könnte weniger war sein. Nicht nur, weil der Mensch eine Welt geschaffen hat, in der dank Habitatzerstörung, globaler Erwärmung, Plastikmüll in den Meeren kein noch so weit von ihm entfernt lebendes Tier mehr von ihm unberührt bleiben kann, gibt es kaum ein Tiergedicht von mir, das nicht im gleichen Atemzug wie vom Tier auch vom Menschen mitspricht. Mal ganz davon zu schweigen, daß  – immer noch das größte Tabu – der Mensch selbst ein Tier ist. Das Tiergedicht ist politisch. Das Tiergedicht ist hochpolitisch! Was denn sonst?

Die Tiere begannen irgendwann einzutreffen in meinem Schreiben – aus der Massentierhaltung, den Tiertransporten, den Schlachthäusern. Aus der Gefangenschaft in den Zoos. Aus den Tierversuchen. Aus der Raumfahrt. Von den vielen Schlachtfeldern dieses alten Grenzkampfes, in dem der Mensch sie, seit er, vom Baum gestiegen (oder -fallen), sich über den Globus auszubreiten begann, unaufhörlich und konsequent marginalisiert hat. Als ich für eine mir vorschwebende kleinere Einsendung eines Tages meine Tiergedichte zusammenzusuchen begann, in der Annahme, daß es nicht allzu viele sein würden, zwölf, vielleicht fünfzehn, nahm das Fündigwerden kein Ende, und die Einsendung kam nie zustande, stattdessen lag vor mir das Manuskript für meinen Gedichtband Massenhaft Tiere. Ich war inmitten von Liebesgedichten und menschengesellschaftlichen Themen damals. Dann, vor fünf Jahren, waren es plötzlich Gespenster, die heranzudrängen begannen. Erst einzelne. Dann schon ein Strom, der bis heute nicht abgerissen ist.

Dodo, von Frederick William Frohawk, 1905


 

Plötzlich stand eine Schattenwelt vor mir, eine Unterwelt. Eine Umkehrung, das Fotonegativ des Bestiariums, wie es sich bislang in meinem Schreiben ausgeformt hatte. Als schritte man durch einen Zoo und alle Tiere wären durch Klaffen wie von Kratern dargestellt. Leerstellen. Ein Bestiarium der Verschollenen. Eine Zoologie der Abwesenheiten.

Wandertauben, von John James Audubon, 1824


 

Wie aber wird man Gespenstern gerecht?

Wie führt man eine Bestandsaufnahme des Verlorenen durch? Wie evozieren, was oft kein lebendes Auge mehr gesehen hat? Wie verschwundenes Lebens nachatmen, das einmal zahlreich war, das soziale Wärme (oder Distanz) der eigenen Art umgab? Wie ihm nachsprechen, mit Gespür für seine eigene Stimme, für seine Bewegungen, aus von ihm ganz spurenlos gebliebenem, erinnerungslosem Raum heraus? Wie genug Schwere haben um ethisch konsequent sein zu können, und zugleich genug Leichtigkeit um die der Rede (des Gesangs, des Aufschreis, des Balzrufs) Beraubten nicht zu überdecken? Wie sie nicht mit Ästhetik, Gestus überklingen? Ihre Eigenarten, ihre Vorlieben? Ihre Individualität? Das Gewicht von Wasser in ihren Federn, oder den Staub und Wind in ihren Nüstern an ihrem vorletzten Tag?

Nicht alle Verlorenen waren einfach nur verlorengegangen. Zuerst war ich über die Paläontologie in die jenseitige Welt der Ausgestorbenen gestolpert – eine unvorstellbare Schatzkammer der Lebensformen entdeckend, überquellend vor Witz und Erfindungsreichtum, die es allesamt auf der Erde einmal gegeben hatte und die von ihrem Angesicht wieder verschwunden waren. Riesenfaultiere, so groß wie heute Elefanten. Anderswo angesichts von Ressourcenknappheit geschrumpfte Zwergelefanten, die es auf ihren (ausgerechnet!) Mittelmeerinseln gerade einmal noch auf 90 Zentimeter Höhe gebracht hatten. Wieder anderswo drei Meter große Riesenkänguruhs, unbeholfen wie auf abgebrochenen Absätzen voranhüpfend. Rasch aber begann ein brennendes Thema sich abzuzeichnen. Vor Erscheinen des Menschen war zwar auch schon ausgestorben worden, mit einer gewissen statistischen Konstanz sowie in fünf geballten Massenaussterbewellen. (Im online-Duden kommt das Wort ‚Massenaussterben‘ übrigens nicht vor, in meiner gedruckten Ausgabe ebenfalls nicht, auf ‚Massenaufgebot‘ folgt bezeichnenderweise ‚Massenbedarf‘.) Und erst das zufällige Aussterben der Dinosaurier schenkte den bis dahin nächtliche Randexistenzen auf Bäumen fristenden Säugetieren Raum für Wachstum, Ausbreitung, Evolution und in Folge dem Menschen die Möglichkeit, die Krone der Schöpfung an sich zu reißen. Die vom Menschen direkt verursachten Ausrottungen jedoch begannen sich zu einer Narration der Bedingungen seines Aufstiegs, zu einer Aufarbeitung seiner Machtergreifung zusammenzufügen, die als Stoff immer unwiderstehlicher wurde. Ein Königsdrama, Shakespeare und Darwin posttraumatisch belastungsgestört in einem himmelsrichtungslosen Waldvoll psychotroper Fukushima-Pilze, Macbeth halbbewußtlos in einer Ecke der 58. Etage des Trump Tower liegend, high auf Agent Orange, Richard III. feucht davon träumend als Kaiser-elect Nero im Tierfell aus einem Käfig ausbrechend das angebliche Ozonloch mit den Geschlechtsteilen und Seelen nackt an Pfählen Festgebundener zu stopfen, während Caligula ungeduldig darauf wartet zusammen mit dem der Hausherrn endlich die Rohstoffe, Nationalparks wegzusniffen. Der aber twittert noch Selbstgespräche mit Nixon. Ein Kabinett, eine Regierung unter vielen. Zehntausend Menschengenerationen. Die Fallgeschichten, auf die ich stieß, rissen nicht ab. Sie reißen noch immer nicht ab. Alle kommen präzise im Hier und Jetzt an, Einschreiben aus dem Bodensatz der Menschengeschichtsschreibung. Rasch wurde auch klar: Der Mensch hat im Laufe seines Aufstiegs das Aussterben zusehends monopolisiert, so wie er den Planeten monopolisiert hat. Eine Erfolgsgeschichte also.

Seit fünf Jahren pflege ich Umgang mit Gespenstern. Für meinen nächsten Gedichtband, der Dodos auf der Flucht heißen und von ausgestorbenen und vom Aussterben bedrohten Tieren handeln wird. Für den ich bis heute drei-, vielleicht vierhundert Gedichte über annähernd so viele Tierarten geschrieben habe. Das sind natürlich viel mehr Gedichte als im Buch sein werden. Zu manchen Arten gibt es Ansammlungen von Gedichten; andere erzählen von mehreren Arten, die miteinander in Beziehung standen, gelegentlich sogar zusammen und zeitgleich ausstarben. Die Dodos haben ihr eigenes Kapitel. Es gibt Fragmente, Skizzen, beiseitegelegte oder aufgegebene Versuche; es kann vorkommen, daß Ausrottungen einander schwindelerregend gleichen – der Mensch rottet nicht immer originell aus. Es gibt Tiere, die sich weigern, meine Aufmerksamkeit wieder zu verlassen; bei manchen habe ich Jahre gebraucht, bis es mir endlich gelang, für ihre Fallgeschichte die richtige Form zu finden.. bis Jahrhunderte und irrsinnig komplexe Verflechtungen von Ursachen und Wirkungen sich entweder federleicht oder rudelswild, stephenschlüpferflink oder warrahverworren in Gedichtzeilen zu senken begannen.

Warrah (1890) und Stephenschlüpfer (1895), von John Gerrard Keulemans


 

Mein Projekt hat sich längst zu einem manischen entwickelt, und wenn ich könnte, wenn es nur irgend möglich wäre, würde ich am liebsten für jede einzelne ausgestorbene, ausgerottete Tierart ein Gedicht schreiben. Ein Epitaph. Ein Monument. Einen Platzhalter, um sie nicht ganz vergessen sein, nicht völlig in den Abgrund wegfallen zu lassen. Aber so viele Gedichte zu schreiben ist unmöglich, es sind einfach zuviele Tierarten. Und es werden immer mehr. Wir leben inmitten der sechsten großen Aussterbewelle auf der Erde, vorangetrieben durch Habitatverlust, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Pestizide, Herbizide, Agrikultur, Brandrodung, urbane Entwicklung; der Mensch hat seine persönliche Aussterbewelle in Gang gesetzt, eine kumulative Kraftausübung gegen die Lebensvielfalt auf diesem Planeten wie sie seit dessen Entstehung aus dem Urknall bisher nur Asteroideinschlägen und katastrophalen chemischen Kettenreaktionen vorbehalten gewesen war, noch nie zuvor aber von einer Spezies ausgeübt worden ist. Die gegenwärtige Aussterberate, wird vermutet, liegt um einen vierstelligen Faktor, also um tausende Male höher als sie normalerweise, ohne den Menschen, liegen würde. Und es besteht, analog zu massiver versteckter Verschuldung vor der plötzlichen Insolvenz, die Wahrscheinlichkeit, daß das wahre Ausmaß der Aussterbekrise sich erst noch offenbaren wird.

Zahlen helfen wenig weiter in Massakern. Trotzdem folgende erschreckende Einschätzungen noch.

Laut einer im Oktober 2016 veröffentlichten Studie des WWF sind von 1970 bis 2012 58% der Tiere von der Welt verschwunden. Jährlich nimmt ihre Gesamtzahl um weitere 2% ab. Seit 2012 verbraucht der Mensch jährlich die Ressourcen von 1,6 Erden.

Eine andere, angesichts etwa der Brandrodung des Amazonas möglicherweise immer noch eher konservative Schätzung geht davon aus, daß stündlich vier Tierarten aussterben. Viele noch bevor sie entdeckt oder wissenschaftlich beschrieben, geschweige denn überhaupt beschrieben worden sind.

Für die Aussterbewelle, in der wir uns befinden, bedeutet das, daß sie immer jetzt, in exakt diesem Augenblick, ihr bislang höchstes Ausmaß erreicht hat. In der nächsten Stunde aber bereits weiter angewachsen sein wird. Alles läuft auf eine Katastrophe hinaus, die sich zu entfalten gerade erst begonnen hat.

Foto: Hakodate, Japan 2015, Mikael Vogel


 

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Published on: 19. Januar 2017
Erstellt von Verlagshaus
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