Feiern, bis die Zensur kommt
Lea Schneider

 

Am 7. Februar 2021 sitze ich den zweiten Tag in Folge vor meinem Computer und starre abwechselnd auf meine Twitter-Timeline und mein Weibo-Feed. Sie sind in zwei benachbarten Tabs geöffnet, als trennte sie nur eine klickdünne, durchlässige Membran. Das ist ein schönes Bild, stimmt aber nur bedingt: Allein die Sprachbarriere zwischen beiden Plattformen ist in den allermeisten Fällen mehr als dick genug.

Weibo ist ein chinesischer Microblogging-Dienst, der Twitter in vielerlei Hinsicht ähnelt, in der Volksrepublik China aber sehr viel populärer ist als Twitter – nicht zuletzt, weil Twitter dort, ebenso wie Facebook, Instagram, Google und Youtube, von der Internetzensur geblockt wird.

Grund für mein Starren sind aber weder Twitter noch Weibo, sondern eine andere Plattform, die noch zu neu ist, um in China schon geblockt zu sein: Clubhouse. Während die exklusive App in Deutschland vor allem durch rassistische, sexistische und andere grenzdebile Ausfälle von sich reden macht, passiert in der chinesischsprachigen Welt etwas anderes: Moderiert vor allem von taiwanesischen Nutzer*innen eröffnen Räume, in denen chinesischsprechende Menschen aus unterschiedlichen politischen Systemen miteinander diskutieren. Menschen aus der Volksrepublik, aus Taiwan, Hong Kong und der weltweiten chinesischen Diaspora tauschen ihre Meinungen aus – ohne staatliche Zensur dazwischen, in einem direkten Gespräch, das so (semi-)öffentlich noch nie möglich war.

Sie diskutieren über Demokratie, über Frauen- und Minderheitenrechte, über die Sehnsucht, einander kennenzulernen. In manchen Räumen halten sich mehr als 4000 Menschen gleichzeitig auf. In manchen Räumen achten die Moderator*innen darauf, dass nie zwei Männer direkt nacheinander sprechen, dass sich Frauen und Männer beim Sprechen abwechseln. In manchen Räumen entschuldigen sich Han-Chines*innen, die bisher nur die staatliche Propaganda kannten, für den Genozid an den Uyghuren in Xinjiang. In manchen Räumen beenden Menschen ihre Beiträge weinend.

Die Journalistin Melissa Chan (@melissakchan), die auf Twitter ihre Eindrücke aus einem der Chatrooms berichtet, schreibt:

I can’t explain what it feels like to be in these Clubhouse rooms. They partly feel like confessionals, and there’s a great sense of yearning from people – for sympathy, for expression, for ambivalent feelings about the Party or about democracy. They’ve also talked about independence and free will. I might as well be in an Enlightenment salon – but Mandarin-speaking.
I have a lot of feelings listening to mainland Chinese in China and also overseas, Hong Kongers, Taiwanese, exchange ideas on Clubhose but one of them is deep anger that the Communist Party has done this to us. That what should be a normal conversation is like tasting forbidden fruit.
I feel like I’m binging free expression on Clubhouse.

Ich lese das, und ich schlucke und schreibe und schaue dabei in einen Schneesturm, seit Stunden wird es weißer und weißer in der Welt. In fünf Tagen ist Chunjie, das chinesische Neujahrsfest, und seit Stunden vermisse ich China mit einer Vehemenz, von der ich geglaubt habe, sie sei nur für das eigene Zuhause reserviert.
Ich bin mir unsicher, an welcher Sollbruchstelle mein Denkfehler liegt: Ob diese spezielle Art der Zuneigung großzügiger ist, mehr umfassen kann als nur einen Ort. Oder ob der Trugschluss darin lag, zu glauben, China könne für mich nicht unter die Kategorie Zuhause fallen. Ich bin mir unsicher, welche Rolle mein internalisierter Kolonialismus für die zweite Variante spielt, wieviel wahrscheinlicher er sie macht.

Aber ich bin mir sicher, dass der Schnee etwas mit dem Vermissen zu tun hat, dass er es hervorruft. Ich vermisse eine sehr bestimmte, schneidend klare Kälte, die den Himmel über Peking blau und herrlich werden lässt. Ich vermisse das Hupen und die schnarrende, automatisch abgespielte Aufnahme, die den E-Roller des Schrotthändlers ankündigten, der morgens durch unser Xiaoqu, durch unser Viertel fuhr, und die in Endlosschleife drei immer gleiche Worte wiederholte, mit einer dudeligen Melodie dazwischen: „Computer – Elektroteile – Altmetall, Computer – Elektroteile – Altmetall, …“

Ich vermisse frisch geschnittene Obstbaumzweige in großen Vasen, wie sie mein Freund H. gerade gepostet hat. Ich vermisse die Würde von Topfpflanzen, von Goldfischen, von Hühnern – von Lebewesen, um die gesorgt wird, in täglicher, kleinteiliger, routinierter Arbeit, die eine Form von Liebe ist, die nicht von sich spricht, die Demut zu schätzen weiß. Eine Würde, die mir in China immer selbstverständlicher vorkommt als in Deutschland, und von ihren Trägerinnen selbstverständlicher bewohnt.

Ich vermisse eine sehr bestimmte Offenheit im Lachen meines ehemaligen Kollegen Professor Liu, das weder laut noch leise war, ein perfektes Bariton-Lachen. Professor Liu half mir, mein Visum zu verlängern, als mir die passenden Unterlagen für die Einwanderungsbehörde fehlten; ohne ihn wäre ich keine drei Monate in China geblieben. Ich habe Professor Lius Lachen seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber ich frage mich, ob er immer noch mit der gleichen ungefilterten, verwirrten, stolzen Begeisterung von seiner Tochter erzählt, als ob er selbst nicht ganz begreifen könne, wie er ein solches Glück wie seine Tochter verdient habe.

Professor Liu war ein großartiger und großzügiger Koch. Manchmal vermisste er das Graubrot, an das er sich während seiner langen Promotionszeit in Heidelberg gewöhnt hatte. Ich habe seit fast zehn Jahren nicht mehr an Professor Liu gedacht, aber jetzt vermisse ich ihn wie Graubrot, vermisse ich China wie etwas, das nicht nur Teil meiner Sprache, das Teil meines Körpers ist und mir abhanden kommt.

Es ist drei Jahre her, dass ich das letzte mal in China war und mich mit zunehmender Beunruhigung zwischen Xi-Jinping-Plakaten und Überwachungskameras bewegte, die überall waren, wo es sie im Jahr zuvor noch nicht gegeben hatte. Es ist, nicht ganz auf den Tag genau, ein Jahr her, dass ich ein Buch mit dem Titel made in china veröffentlichte, in dem ich vor allem meine chinesischen Freundinnen zitierte. Meine Freundin D., die sagte:
you know chairman xi? he’s just shit.
Meine Freundin Y., von der ich schrieb:
y. hasst xi jinping, weil xi jinping intellektuelle hasst. das hat er mit mao gemeinsam, sagt y., diese verachtung für die aufklärung.

Ich habe seit einem Jahr nicht mehr versucht, ein Visum zu beantragen, weil es ein Jahr war, das jede Reise ausgeschlossen hat, aber wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch deswegen keines beantragt, weil ich Angst habe, keines zu bekommen.

Es ist, nicht ganz auf den Tag genau, ein Jahr her, dass Li Wenliang starb. Li Wenliang war einer von acht Ärzt*innen, die das Sars-CoV-II-Virus Ende 2019 in Wuhan als erste entdeckten und versuchten, die Öffentlichkeit davor zu warnen. Die Polizei verhörte Li, es wurden Disziplinarmaßnahmen verhängt und er musste unterschreiben, keine weiteren „fake news“ oder „aufhetztende Kommentare“ zu verbreiten. Am 6. Februar 2020 starb Li an Covid-19. Ich erinnere mich, wie ich atemlos vor meinem Weibo-Feeds saß und zusah, wie eine Gesellschaft explodierte.

Li Wenliang wurde als Whistleblower, als Märtyrer für die Meinungs- und Pressefreiheit betrauert. Sobald ein Hashtag geblockt wurde, trendete sofort der nächste. Wenn Texte und Posts wegen „sensibler“ Worte gelöscht wurden, posteten die User*innen Bildschirmfotos ihrer Texte, Zeichnungen, Tonaufnahmen, schrieben dieselben Texte erneut in selten genutzten Kalligrafieschriften, die von der automatischen Texterkennung nicht erfasst werden, oder in Internetslang, in dem zensierte Schriftzeichen durch Homonyme ausgetauscht werden. Ich saß im Februar 2020 vor meinem Computer und dachte dasselbe, was ich heute, im Februar 2021 denke:
Das ist riesig. Das könnte ein Anfang sein.

Die Wiederholung und der Konjunktiv verweisen hier auf dasselbe: Im Februar 2020 kam die Revolution nicht, und im Februar 2021 kam, keine 24 Stunden, nachdem ich diesen Text begonnen hatte, die erste Meldung, dass Clubhouse sich in der Volksrepublik nicht mehr öffnen ließ. Clubhouse in China is a party that knows the cops are coming, hatten Che Pan und Yujie Xue kurz zuvor noch auf Inkstone News geschrieben – jetzt waren die Cops offenbar da.

Es ist, nicht ganz auf den Tag genau, elf Jahre her, dass ich nach Shanghai zog, um an der Universität zu arbeiten, wo Professor Liu mein Kollege wurde. Als ich im Februar 2010 am Pudong International Airport landete, begrüßte mich ein Schneesturm. Es war das erste mal seit über dreißig Jahren, behauptete meine Mitbewohnerin A. später, dass es in China südlich des Yangtse schneite.

 

 

Lea Schneider ist Lyrikerin und Publizistin. Zuletzt im Verlagshaus Berlin erschienen:

Made in China
CHINABOX
Invasion Rückwärts

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