sonst nichts
nein, ich war nicht am platz, als eine granate einschlug
ja, jemand wurde getroffen, der mir lieb war
nein, ich habe nicht im keller geschlafen
ja, ich rufe jede nacht diejenigen an, die dort schliefen
nein, ich war kein mann, den sie zum lager geschleppt haben
ja, ich habe jemanden gesehen, der aus dem stacheldraht mit einer kugel in der brust kam
nein, ich habe niemanden sterben sehen
ja, ich sah, wie leichen den fluss hinuntertrieben
nein, ich bin nicht verhungert
ja, ich habe einen hochzeitsring für brot und milch verkauft
nein, niemand hat mich aus meinem heim verjagt
ja, jemand tauschte die schlösser aus und lag in meinem bett
nein, ich habe nicht die winzige pistole gekauft, die ich in einem laden sah
ja, ich mochte sie, sie würde in meine brieftasche passen
nein, ich habe mir das flussufer nicht ausgesucht, an dem ich mich befand
ja, ich weiß, ich hätte schwimmen lernen können
nein, ich hatte keine angst
ja, ich habe geweint, als ich die flugzeuge vorbeifliegen sah
nein, sie haben mich nicht gehört, ich war zu weit unter ihnen
ja, ich wusste, dass sie deinen hof bombardieren würden
nein, tatsächlich wusste ich das nicht, ich fürchtete, sie würden es tun
ja, ich erinnere mich an alles
nein, es war nicht kalt, sondern ein schöner sommer
ich führte mein mädchen im kinderwagen aus und sang für sie
den ganzen tag
was sang ich?
von einer wolke und einem vogel,
einem wunsch und einem stern,
la la la,
ja, sonst nichts
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Osijek, die Geburtsstadt der Dichterin, wurde im Kroatienkrieg zwischen August 1991 und Juni 1992 von der Jugoslawischen Volksarmee mit starkem Artilleriefeuer belagert, nachdem diese bereits Vukovar, östlich von Osijek, erobert und zerstört hatte und ihren Feldzug nach Westen fortsetzte. 800 Menschen starben in der Stadt durch den heftigen Beschuss. Die etwa 6.000 Granaten schlugen auf den Plätzen und in die Häuser ein, der Schaden war immens. Dennoch wurde die Stadt nicht eingenommen.
Nach dem Krieg verurteilten kroatische Gerichte 13 serbische Offiziere der Jugoslawischen Volksarmee wegen Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung von Osijek; diese stellten sich dem Urteil nicht und blieben geschützt in Serbien. Auch der Kommandant der kroatischen Verteidigungstruppen, Branimir Glavaš, wurde wegen Ermordung serbischer Zivilisten in Osijek 2009 zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt, der er sich durch Flucht nach Bosnien und Herzegowina entzog, wo er seitdem unbestraft und ohne Einsicht in seine Schuld lebt.
Am 29.11.2017 endete der 1993 geschaffene Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Der kroatische Ex-General Slobodan Praljak, der vor dem Kroatienkrieg Regisseur und Theaterdirektor u.a. in Osijek gewesen war, zog die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich, als er sich durch Einnahme von Zyankali im Gerichtssaal aus Protest gegen den Richterspruch tötete, nachdem er wegen Kriegsverbrechen in Bosnien im Jahr 1993 verurteilt worden war. In Kroatien wurde er betrauert. Das Urteil gegen Praljak und weitere kroatische Ex-Militärs löste Empörung aus und wurde von der Regierung abgelehnt. Der Premierminister Andrej Plenković bezeichnete es als „inakzeptabel“, da die Verantwortung Serbiens für die Kriegsverbrechen in Bosnien in den Urteilen nicht bestätigt würde. Praljak hatte sich mit Schriften aus der Haft entschulden wollen, zuletzt durch seinen performativen Protest, mit dem er sich der Haftstrafe entzog. Dieses Vorhaben fand Resonanz in der Heimat.
Schuld zu verdrängen, sie von sich zu weisen und sich der Strafe zu entziehen, sind Mittel, Erinnerung an die Verbrechen und Schrecken des Krieges zu vermeiden und das Vergangene von sich abzuspalten. Die „Schuld der anderen“ ist ein Behälter, in dem es sich über imaginäre Grenzen verschiffen lässt.
Tatjana Lukićs lyrisches Ich dagegen erinnert sich an alles. Ihr Gedicht spricht kein Urteil, das auf ja oder nein, schuldig oder nicht festgelegt ist. Erinnern heißt, Zeit und Ort des Erinnerns mit den Zeiten und Orten des Erinnerten zu verknüpfen. Ja und nein zu vermitteln, den Sommer und die Lager, die Kugel und das Kind. Die Wahrnehmung und die Ablenkung. Mich und Euch.
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Tatjana Lukić wurde 1959 im slawonischen Osijek, Kroatien, geboren und studierte Philosophie und Soziologie an der Universität Sarajewo. Nach Aufenthalten in Bosnien, Serbien und der Tschechischen Republik floh sie 1992 vor den Jugoslawienkriegen mit ihrer jungen Familie nach Australien. Dort lernte sie Englisch und arbeitete als Soziologin und Übersetzerin in Canberra. In Jugoslawien hatte sie bereits mehrere Gedichtbände auf Serbokroatisch veröffentlicht. Erst in den Jahren vor ihrem Tod 2008 veröffentlichte sie auch Lyrik auf Englisch. Das Gedicht nothing else (nichts sonst) erschien zuerst 2006 in Blast Nr. 6; es eröffnet zudem die 2009 unter dem Titel la, la, la posthum erschienene Sammlung ihrer auf Englisch verfassten Gedichte.