Wir begrüßen Crauss in der BlackBox und dürfen ihn vorstellen – in diesem Falle vorstellen lassen. Von einem, der wie kaum ein anderer sich in Crauss' poetischer Welt auskennt, in unterschiedlichster Korrespondenz begleitet: Matthias Fallenstein.
Für Crauss' Band in der Edition Binaer, »Dieser Junge. Digital Toes«, schrieb Matthias Fallenstein das Nachwort, das wir unseren Leser_innen hier als Vorwort und Auftakt der Zeit mit Crauss in der BlackBox zur Hand geben.
In den nächsten 10 Tagen folgt Crauss – mit Einblicken in seinen neuen Band, der im Frühjahr 2018 im Verlagshaus erscheint: »Die Harte Seite des Himmels«.
Eine poetologische Hinführung zu Crauss von Matthias Fallenstein
1.
Dieser Junge! Ich muss ihm schon einmal, manchmal begegnet sein, bevor er mir eines Abends auffiel, zu vorgerückter Stunde: er verließ gerade den Raum, als mein Blick ihn im Augenwinkel erfasste, und bis ich ihn erkannt hatte, war er schon verschwunden. Später, als wir einander vertraut geworden waren, erzählte ich ihm alles von mir, auch was ich vor anderen wohlverborgen hielt. Er war viel jünger als ich und hörte geduldig zu. Doch schienen ihm meine Geschichten gleichgültig zu sein, und er sagte niemals etwas dazu. Ich glaubte aber, sie gingen ihn etwas an, er müsse alles wissen. Was trieb mich dazu? War da ein Begehren, eine Liebe im Spiel? Hatte ich ihn tatsächlich schon gekannt? Wer war, wer ist dieser Junge?
2.
Crausstexte sind Pansmusik: verlockende Melodien, süß und sehnsüchtig aus der Ferne herüberwehend, und plötzlich unheimlicher, schreckender Schrei, machtvolles Hervorbrechen und dunkle Überwältigung des Lebendigen. Pan war der Erfinder der Syrinx, der fünf- oder siebentönigen Panflöte, ein arkadischer Hirtengott ältester, wenn auch unklarer Herkunft, Weltenschöpfer und voll erotischer Kraft, halb Tier, halb Mensch, halb Dämon, halb Gott, gehörnt, bärtig, krummnasig, rauhbehaart, geschwänzt und geißfüßig, später vermischt und verwechselt mit Satyrn und Faunen, schließlich für die christliche Ikonographie das Vorbild des Teufels. Den dem Pan eigentümlichen Ton trafen und treffen in deutschsprachiger Dichtung nur wenige Autorinnen und Autoren, erotische Sprache zerfällt zu oft und zu leicht in die Extreme plumpester Zoten auf der einen, äußerster Sublimierung auf der anderen Seite: was aber Pansmusik genannt werden darf, kann beides und hält sich souverän dazwischen. Pan primum calamos cera coniungere pluris / instituit, Pan curat ovis oviumque magistros. / nec te paeniteat calamo trivisse labellum. Diese Verse aus der zweiten Ekloge Vergils verbinden glücklich Sublimierung und Zote im Wesen des zotteligen Gottes, Rudolf Alexander Schröder übersetzte: Lehrte doch Pan zuerst mit Wachs die Rohre verbinden, / Pan, der die Herde beschützt und schützt die Meister der Herde. / Laß dich's nimmer verdrießen, am Rohr die Lippe zu wetzen usw.
Die zweite Ekloge Vergils enthält die Liebesklage des Hirten Corydon um den Knaben Alexis, der ihm nicht zugänglich war. Es ist eines der schönsten antiken Gedichte zum Thema Homoerotik, und es behandelt das Thema mit einer Freiheit und Neutralität, die nur in der lateinischen Welt möglich war; für das klassische Griechenland war die erotisch-sexuelle Beziehung zwischen Männern und jungen Burschen zwar schon Gegenstand einer rational-diätetischen Ökonomie des Liebeslebens, sie wurzelten aber noch in uralten religiös-symbolischen Ritualplänen, die ihre Gestaltungsspielräume äußerst strengen Regeln unterwarfen. Im Lateinischen herrscht anscheinend selige Unbekümmertheit. Die leichte Ironie, mit der Vergil am Ende den hoch elegischen Ton der zweiten Ekloge bricht, gehört zum Thema: a Corydon, Corydon, quae te dementia cepit! … invenies alium, si te hic fastidit, Alexim, deutsch: Corydon, Corydon, ah, du dünkst mich wahrlich von Sinnen! … Wenn dich dieser verschmäht, du findst einen andern Alexis! Kein Grund zur Aufregung, Corydon und Genossen! Ich kann euch trösten, es wird nicht leichter: junge Burschen wachsen immer nach.
Crausstexte richten einen begehrlichen Blick auf Jungs. Freilich geht es bei Crauss nur selten um solche Engelsgesichter, die, kaum vierzehnjährig, noch miteinander raufen, wenn sie einander schon küssen könnten, wie der schöne Tadzio und der stämmige, schwarze Jaschu, Jungen vom Typ der Cola-Trinker: Thomas Mann beobachtete sie am Lido, Thomas Böhme am Hühnergottstrand. Crauss misstraut der Unschuld dieser Bengel und ahnt mit Schrecken voraus, wie sie wenige Jahre später einem, der schon am Boden liegt, ihre fundamentalistische Wut wider die Welt lustvoll in den Leib treten, vielleicht weil auch er einen begehrlichen Blick riskiert hat. In Crausstexten sind die Burschen in der Regel robuster und reifer, sie gleichen eher den Kameraden Walt Whitmans am Hudson, den jungen Männern, die Kavafis in den Hafengassen Alexandrias aufsuchte. Sie sind manchmal durchtrieben, oft rauhbeinig, sie lassen sich stolz schon einen dreitagebart stehen, arbeiten als matrosen in Brest oder im Film, als bedienjungen in einschlägigen Lokalen, sie verkaufen Blumen oder ihren Körper an Herren, die gern was heisses hätten, und ihnen allen liegt pfeffer im arsch. Mit der dunklen, aber nicht abzuwehrenden Sicherheit ihres Getriebensein wissen sie, was sie wollen und wie man drankommt: sie stehn an den ecken und strecken die becken (weit, weit nach vorne heraus) / jedem entgegen, der will. Der eleve vom flughafen mit den botticelli / locken, den man aufs Zimmer mitgenommen hat, für ein paar Stunden oder eine Nacht, riecht nach anderen männern. Man möchte solch einem Bengel die locken wegmachen, ihn mit einer haarschere beschneiden … ihn kastrieren damit er ein engel … mir bleibt. Aber das wäre ein frommer Wunsch, der das Leben dem schönen Bilde opfert. Stattdessen wird man sich eilend entkleiden und stürmisch lieben, bevor die gischt gegen das fenster sprüht: es ist der erwartete sturm, den man herbeisehnt und fürchtet.
Hans Mayers Buch Außenseiter ist 1975 erschienen. Ich kann auf dieses grundlegende Werk, seine philosophischen Implikationen, seine unbestrittenen Verdienste und seine unbestreitbaren Irrtümer hier nicht ausführlich eingehen. Für die Literaturwissenschaft lag seine Bedeutung unter anderem darin, dass Mayer im zentralen Kapitel Sodom eine Analyse und Kritik der Werke homosexueller Autoren vorlegte und forderte, die Homoerotik, soweit sie in den Werken direkt oder indirekt zur Sprache kommt, nicht als medizinisches oder juristisches, sondern als ästhetisches Problem wahrzunehmen und zu beurteilen. Damit erschloss sich der Literaturwissenschaft eine neue Aufgabe: das von schwulen Autoren in ihre literarischen Werke eingelassene Begehren zu erkennen und herauszuarbeiten. Als Vorbild und Parallele bot sich die feministische Literaturforschung an, die im Rahmen der Frauenbewegung nach der literarischen Bekundung weiblicher Identität suchte und dabei auf anderen Wegen auch auf das Thema Homosexualität gestoßen war. Es ist nicht belanglos, dass diese Forschungstätigkeiten sich in einem identitätspolitischen Kontext emanzipativer Bewegungen formierten, sie kamen nämlich dadurch wie von selbst in ein Fahrwasser, das die wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Forscherinnen oder Forscher auf die Frage nach einer Literatur von Frauen für Frauen bzw. von Schwulen für Schwule konzentrierte. Die Bedeutung der literarischen Werke wurde also tendenziell aufs Genre, schlimmstenfalls auf die Sparte reduziert, weshalb eine Autorin wie Friederike Mayröcker dieses Konzept überhaupt verwarf. Der Konnex ist schon in Mayers Buch unverkennbar. Mayer analysiert die Literatur homosexueller Autoren unter den beiden Gesichtspunkten der Apologetik oder der Camouflage und spitzt die Argumentation so fast von selbst auf die Frage nach einer selbstbewussten Darstellung schwulen Begehrens zu, in welcher der Leser sich selbst, sein eigenes Begehren unverstellt wiederfinden, mit der er sich identifizieren kann. Für Mayer stellt das Werk Jean Genets den Wendepunkt dar. In Genets Büchern findet er die zuvor von homosexuellen Autoren nicht erreichte Einheit des literarischen Subjekts und Objekts. Literatur mit schwulen Themen wird zur schwulen Identitätsfindung: Hier, so Hans Mayer, schreibt ein Homosexueller homosexuelle Literatur. Mayer wird sich, was Genet betrifft, gründlich getäuscht haben, gerade die explizit sexuellen Passagen in seinen Romanen hat Genet ästhetisch nach dem Vorbild Henry Millers (vor allem der Erzählung Stille Tage in Clichy und der Wendekreis-Trilogie) gestaltet. Genet konzipierte sie nicht deshalb als Liebesszenen unter Männern, weil er darin eine besondere Art des Begehrens darstellen wollte, sondern weil er, nach eigenem Bekunden, sich damit auskannte, was Männer miteinander treiben. Frauen interessierten ihn nicht.
Crausstexte werfen einen begehrlichen Blick auf Jungs. Aber sie formulieren nicht das homosexuelle Verlangen als schwule Literatur; so wenig, wie Mayröcker speziell für Frauen schreibt, so wenig wendet Crauss sich ausschließlich an Männer, die nach hübschen Burschen schauen, oder Burschen, die nach geneigten Männern suchen. Crausstexte sind, so explizit sie sein können, viel weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick wirken mag. Das Gedicht männer und frauen im traum bringt eine Männerphantasie voller Frauenverachtung zum Ausdruck, das Objekt des Begehrens ist eine dakota, ganz ohne lack, auf verrotteten reifen, sind bärenstarke und schokoladbittere jungen, denen klatschnass das tuch / an den lenden festklebt. Aber solche Männer würden im wachen Zustand die braunen Burschen nicht anzurühren wagen und nehmen, weil's üblich und bequemer ist, eine Frau oder ein Mädchen ins Bett, um sich die Einsamkeit zu vertreiben. Crausstexte richten sich in der bequemen Welt eindeutiger Zuschreibungen nicht ein, sie spielen sich und ihren Lesern eine Welt vor, die nicht in Abteilungen zerfällt, die es vielmehr in ihrer verlockenden und bedrohlichen Vielfalt und Gänze für das Begehren zu entdecken gilt. Homosexualität ist keine zur Analyse von Crausstexten taugliche Kategorie. Der Junge, den der begehrliche Blick trifft, könnte vielleicht auch ein Mädchen sein, auf malta sind die Geschlechter ohnehin kaum zu unterscheiden. einer von fünf wechselt nicht nur die shorts alle Tage, wie mama gesagt hat, bei ihm findet man auch ein deo im Bad: hat das was zu bedeuten? Viel kann in Crausstexten geschehen, ein junge in kniestrümpfen kann unvermittelt … die züge einer mittdreissigerin annehmen; aber lassen wir uns trotz allen Zweideutigkeiten und Zweifeln nicht täuschen: der golden boy knabe du / mit dem mädchenblick, der immer und überall Gesuchte ist ein Junge, ist – so bin ich doch nicht. Subjekt und Objekt sind in Crausstexten nicht identisch, ihre Identität steht vielmehr in Frage. Wahrheit ist nicht zwingend tautologisch, x ist einmal x, ein andermal -x, und nicht selten beides zugleich, Pansmusik, Echo von überall her.
3.
Dieser Junge, ich hab ihn erkannt an den hohen strümpfen: Er ist das kind ... in der mitte der strasse, er steht dort unbeweglich und still, natürlich, es ist ja nur ein Bild, eine alte Fotografie, er ist erstarrt. Der Junge ist noch ein Kind, noch unentschieden – einst bin ich 1 Knabe, ich bin auch 1 Mädchen gewesen (so Empedokles, nach Friederike Mayröcker). Offen für die ganze große und widersprüchliche Welt, selbstvergessen lebt dieser Junge auf eine Zukunft zu, von der er nichts weiß und die er nicht kennen muss: Ich bin dieser Junge, und er ist das kind, das ich einmal, manchmal war. Doch da ist eine Gefahr, aus beiden richtungen nähert sich licht, irgendwann, nein! schon gleich!, wird etwas mich fortreißen und in irgendeine Richtung schleudern, hierhin, dorthin, nach vorn, nach hinten, in den Dreck, in den Himmel. du fragst: wie wird sich der junge entscheiden? / warte ab, bis das empfinden einholt, / was sein verstand ihm vorsagt. Und es wird seine größte Angst, höchste Lust.