„Geht nach Haus, Dichter,
geht in die Wälder, fangt Fische, schlagt Holz
und tut eure heroische Tat: Verschweigt!“
[1]

Mütterlicherseits stammt meine Familie aus der Pfalz. Die Pfalz ist eine eigenartig gespaltene Region: Romantische Burgruinen, dunkle Wälder und der Wein verschafften ihr einige touristische Bekanntheit, doch der Tourismus brachte Pfalz und Ferne nicht zusammen. Im Gegenteil: einen provinzielleren Ort als die Pfalz kann man sich gar nicht vorstellen. Insbesondere die Nordpfalz, jene Region rund um den Donnersberg, aber auch Teile der Westpfalz gelten als „strukturschwache Gebiete“. Als „strukturschwach“ werden in Deutschland meist ländliche Regionen bezeichnet, die in „einem Teufelskreis aus Verschuldung, Wachstumsschwäche, Arbeitslosigkeit und Abwanderung gefangen“ sind. Die Kategorien, die zum Urteil „Strukturschwäche“ beitragen, sind in der Regel Bildungstand und Qualifikation der Einwohner*innen, Alters- und Kinderarmut, Lebenserwartung, Zugang zu medizinischer Versorgung, Haushaltseinkommen, Breitbandanschluss, kommunale Verschuldung und Wahlbeteiligung. [2]

Als junger Mensch erlebte ich die Schwäche der Pfalz vor allem in Bezug auf die eindimensionalen und an einer „goldenen“ Vergangenheit orientierten Denk- und Empfindungsweisen der Menschen, die dort lebten. Dazu wurde und wird ein grenzwertiger Dialekt gesprochen. Alles blieb mir im Grunde verschlossen, die Kommunikation war kaum mehr als ein Schreien und Bellen, die Sprache war eng und roh. Ich fühlte mich tatsächlich in einem Teufelskreislauf gefangen. Denn jeder Versuch, aus dem provinziellen System auszubrechen, gegen kulturbedingten Chauvinismus, Misogynie und Antisemitismus zu rebellieren, scheiterte schon an der sprachlichen Darstellung der kritisierten Defizite. Mein Großvater nannte mich als Kind e nervöse Jud, wenn mein Sprechen von flatternden Händen begleitet wurde. Uns fehlten damals die Worte, über Gewalt und Diskriminierungserfahrungen sprechen zu können. Worte für Beleidigungen dagegen waren ausreichend vorhanden. All das erzeugte Scham und Wut und machte mich sprachlos.

Während der Besuche bei meinen Großeltern wurde ich also mit dieser Enge und sprachlichen Rohheit konfrontiert. Tante und Onkel verstand ich zum Teil gar nicht. Und doch schien meine Großmutter irgendwie auch anders zu sein als der Rest der knapp vierhundert Einwohner*innen des Dorfes. Die Mutter meiner Mutter sprach nie viel. Mich bannten ihre fast schwarzen Augen, ihr schneeweißes Haar, das einmal blauschwarz gewesen sein soll. Meine Oma erinnerte mich als Kind immer an eine Hexe, an eine Märchenhexe. Dazu wollte nur nicht passen, dass sie sich in der evangelischen Dorfgemeinde engagierte und sogar ein Amt im Presbyterium bekleidete. Hatte sie ein paar Gläser Riesling zu viel getrunken, konstatierte sie gerne in kurzen und prägnanten Sätzen, wer im Dorf, das sie ihr ganzes Leben lang nicht verlassen hatte, seiner Zeit de gröscht Nazi gewesen war und wer den jüdischen Familien, die einst im Dorf lebten, bei der Flucht geholfen hatte.

Die Pfalz war eine Region, in der seit der frühen Neuzeit viele jüdische Familien lebten, die keine sogenannten ‚Schutzjuden‘ waren und sich als Tagelöhner*innen verdingten. Meine Oma selbst gehörte zu jenen Leuten, die den jüdischen Familien halfen, wohl auch, weil es in ihrer Familie selbst jüdische Vorfahren gab.

Was sich im kleinen Dorf meiner Großeltern abspielte, wirkte auf mich damals besonders, so als hätten die Nazis sich nur an diesem Ort aufgehalten, worunter dann eine kleine Minderheit litt. Das war natürlich eine naive Vorstellung. Nicht erst seit dem Erstarken der AfD in Rheinland-Pfalz wurde deutlich, dass Nazis nicht nur im Dorf meiner Großeltern immer schon anwesend waren und sich, befördert durch den Mix aus Bildungsferne, Provinzmentalität und Verschwörungsglauben, ihre Weltanschauung intergenerational reproduzierte. Auch das ein Teufelskreislauf.

Wolfgang Koeppen (1906–1996) hat in seinem Werk schon früh eindringlich auf die hinter der bürgerlichen Fassade brodelnde Xenophobie der „deutschen Mentalität“ [3] nach dem Zweiten Weltkrieg hingewiesen. In Jugend, was im Jahr meiner Geburt erschien, befragt Koeppen – ebenso wie ich in Gedicht und Essay – seine Erinnerungen an die Zeit seines Aufwachsens, was geblieben sei von diesem Ding, dass er so gerne ‚Heimat‘ nennen wollte, aber nicht konnte. Es bleibt für ihn

„der geleierte zusammengesetzte Satz der nichts sagt, bleibt das geleierte von keinem Gott vernommene Kirchenlied, bleibt der geleierte vaterländische Gesang, der den Sänger berauscht, […] bleibt ungeleiert das Schweigen über dem Was nun, bleibt ungeleiert der Haß gegen das Jetzt, das ist die Republik, das ist Weimar, das ist Versailles, das ist die schwarze und die rote und die deutsche Schmach …“ [4]

Der „Hass gegen das Jetzt“ ist eine Wendung, die mich sehr bewegt, und die mir eine treffende analytische Kategorie auch dieser Tage zu sein scheint – nicht nur in Bezug auf die Pfalz: „Hass gegen das Jetzt“ bringt meine Erinnerungen an mein Aufwachsen auf den Punkt. Das war es, wofür mir damals die Worte fehlten: Xenophobie, die Unterschwelligkeit eines scheinbar nie versiegenden Rassismus und Antisemitismus, der Hass auf alles Neue, auf alles Gegenwärtige.

Bei Koeppen wird nicht nur deutlich, dass diese Erscheinungen nach der NS-Zeit nie wirklich verschwunden, sondern immer auch schon bürgerlich verfugt waren – und bei Weitem nicht nur der wirren Gedankenwelt von Spinnern entstammen. Exemplarisch zeigt sich dies auch heute wieder in der Pfalz. Besorgniserregend sind nicht die von Neonazis organisierten Aufmärsche, die auch Wutbürger*innen aus den Energiespar- und Reihenhäusern treibt. Es sind die sich wiederholenden Themen und Motive, die mentalitätsgeschichtlichen Anliegen, die sich decken und sich immer rückbeziehen auf eine angeblich „goldene“ Vergangenheitsillusion, und das konservativ-bürgerliche Herz ebenso höher schlagen lassen wie das der Spinner.

Eindrücklich zeigte sich dies 2019 in Frankenstein, einem 950-Seelen-Dorf im pfälzischen Landkreis Kaiserslautern. Hier schlossen Herr und Frau Schirdewahn eine Fraktionsgemeinschaft auf Kommunalebene. Sie ist CDU-Mitglied, er Mitglied der AfD. Ihre Kooperation, die im Übrigen eines der ersten kommunalen Bündnisse zwischen AfD und CDU darstellte – es folgten ohne viel Aufsehen zahlreiche in anderen Bundesländern –; diese Kooperation nannten die Eheleute Schirdewahn „Fortschritt Frankenstein“. Der Name ist Programm und erinnert natürlich an Mary Shelleys berühmten Roman. Auch darin geht es um die Ambivalenz aus Fortschritt und Schrecken. Die Schirdewahns waren blind für das Monster; unter einem ihrer Fotos, das durch die Medien ging, stand der Satz „Wir leben in einer Demokratie“. [5] So ambitioniert sich die CDU-Parteispitze in Berlin gegen solche Fraktionsgemeinschaften auch erwehrte, gegen das Monster des „deutsche[n] Gefühl[s]“ [6], wie es Wolfgang Koeppen nennt, kam sie nicht an. Demselben Empfindungshorizont erwachsen auch die rassistischen Anfeindungen gegen einen Pfarrer aus Nigeria im selben Landkreis. Dr. Patrick Asomugha musste schon längere Zeit Einbrüche in sein Pfarrhaus und zerstochene Autoreifen über sich ergehen lassen. Eine Morddrohung im April 2020 zwang ihn schließlich zum Aufgeben. [7]

Ganz gleich wie der Stein des Anstoßes genannt wird – „Flüchtlingskrise“, Windräder, steigende Spritpreise, „Genderwahn“, „Lügenpresse“ – die deutschen Gefühle sind geprägt von Angst, die hinter dem ‚Hass gegen das Jetzt‘ wirkt: die Angst vor „Überfremdung“, die Angst, etwas zu verlieren, die Angst, den Status Quo der bürgerlichen Ordnung nicht mehr historisch angemessen aufrecht erhalten zu können und die Tatsache, dass vielfältige soziale Realitäten in der gängigen Sicherheitsideologie der Deutschen nicht mehr aufzugehen scheinen. Diese Gefühle verengten schon damals in den 80er- und 90er-Jahren einen Wahrnehmungshorizont jenseits der eigenen ‚mentalen Provinzen‘ – bis heute.

Was ich bei Wolfgang Koeppen als analytisch beschrieb, zeigt sich bei Wolfgang Borchert (1921–1947) atmosphärisch, tentakulär und dadurch körperlich spürbar(er). Die beiden Wölfchen haben mein eigenes Schreiben zentral geprägt, ganz entgegen ihrer etablierten Kollegen (es waren ja tatsächlich weitestgehend nur Kollegen) der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Borcherts Erzählung Die Hundeblume (1946) half mir nicht zuletzt schon relativ früh, mit der Enge meines eigenen Aufwachsens klarzukommen, Worte zu finden.

Borcherts Erzählung handelt von einem jungen Gefangenen, der die Einsamkeit und Enge seiner Haft hinter sich lassen kann, weil er durch die Begegnung mit einer kleinen gelben Hundeblume (volkstümlich für Löwenzahn) während eines Hofganges zu sexueller und religiöser Orientierung befähigt wird. [8] Später zog ich für mich eine Lehre aus dem Text: Im Blick auf so etwas unbedeutendes wie Unkraut, ein Dorf, ein Glas Riesling, Dampfnudeln, ein Hund oder auch nur ein Wort, kann sich der Horizont des Gefangenen weiten, um Hoffnung, Lebendigkeit und Welt in die Zelle zu lassen. So können Ängste, vor allem die Angst vor sich selbst, Scham und Wut verhandelt werden.

„Er war so gelöst und glücklich, daß er alles abtat und abstreifte, was ihn belastete: die Gefangenschaft, das Alleinsein, den Hunger nach Liebe, die Hilflosigkeit seiner zweiundzwanzig Jahre, die Gegenwart und die Zukunft, die Welt und das Christentum – ja, auch das!“ [9]

Besser als mit diesem Zitat könnte ich den Ort meines Aufwachsens nicht beschreiben; die Pfalz prägte sich ein und quoll bald an allen Ecken und Kanten meiner porösen Identität als Jugendlicher heraus. Borcherts Bild der Zelle, an das er erst die Angst, dann die Wut des Gefangenen – die „deutschen Gefühle“ – koppelt, verbindet sein Schreiben mit dem Koeppens. Hinzu kommt die Kritik an einer bildungsbürgerlich gesättigten Klasse, denn beide Schriftsteller wussten, dass die Literatur ihrer Zeit bei aller intellektuellen Reflexion der historischen Schrecken und bürgerlicher Dialektik vergessen hatte, dass sich Dichter*innen doch viel zu selten den einfachen Dingen des Lebens widmen. Statt über Unkraut zu schreiben, wurden unentwegt Zierpflanzen beschrieben, damit traditionelle Normen verfestigt und Tabus wie Scham, Schuld und Verdrängung elegant umschifft. Auch das ist Teil einer ‚mentalen Provinz‘ – und heute ein dringliches Thema.

 

In der Pfalz und in der Ferne

Geschichtsanalyse am Kaffeetisch
mit Onkel Fritz und Tante Heide-
krauttee zum schneebedeckten Donnersberg.
Der Name ist Programm. Ohne
Zwang den schwarzgefleckten Torfhund mit der
Onyxnase tief zu Boden gedrückt.

Mittags Dampfnudeln an Vanillesauce,
ein fettiges Arrangement ohne
Hinterbliebenengesuch Baugenehmigung,
Metaphernbildung Ressentiment.
Das zierliche Anubisgesicht des
Torfhundes : unter Drogen gestellt trägt es
mehr Spuren vom Gestern als das vom Vergessen
geprägte Gewäsch der klebrigen Gespenster.

Unterm Strich mal Direktes benennen,
Bauchfleischsuppe ohne Übertragungsverluste,
verkrustete Altweltsprachen der Dichtung.
Unterm Strich mal Konkretes sagen,
nichts verschweigen und verzerren oder
Wirklichkeit bewusst verbergen.

Das ist die Sprache, die die Welt
versteht und nicht verklärt,
während Riesling in blauen Fässern gärt.
Da kippt das Element von Neuem.
Aus Einfachheit wird dauerhaftes Ja zur
Wiederkehr wachsenden Verdrängens
beispielsweise in der Ferne
: jemand ertrinkt im Mittelmeer.
[10]

 

In der sechsten Episode unseres Podcasts #lyrikalsmodus spricht Alexander Graeff mit Tillmann Severin über Magrittes Pfeife, was Ausgänge vorn und hinten mit Sozialisation zu tun haben und über den Unterschied zwischen knackigen und saucigen Gerichten.

»Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont«
(Verlagshaus Berlin, 2019)

Abb.: Löwenzahn (Taraxacum officinale). © Historische Abbildung aus Koehlers Medizinal-Pflanzen in naturgetreuen Abbildungen und kurz erläuterndem Texte (1883−1914).

[1] Borchert, Wolfgang: Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck (1947). In: ders.: Das Gesamtwerk. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2009. S. 270.

[2] Vgl. die Studie Ungleiches Deutschland 2019 auf https://www.fes.de/ungleiches-deutschland (Letzter Zugriff: 10.06.2020).

[3] Vgl. Klein, Jürgen: Moderne und Intertextualität: Wolfgang Koeppens »Tauben im Gras«. In: Text+Kritik 34 (2014). S. 44-51. Hier ist auch vom „virulenten Rassismus“ in Deutschland die Rede (S. 46).

[4] Koeppen, Wolfgang: Jugend (1976). Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1982, S. 69.

[5] Vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/frankenstein-cdu-politikerin-und-afd-mann-gruenden-gemeinsame-fraktion-a-1285608.html (Letzter Zugriff: 10.06.2020).

[6] Wolfgang Koeppen in Zeugen des Jahrhunderts. Gespräch zwischen Marcel Reich-Ranicki und Wolfgang Koeppen (1985), maschinenschriftliche Abschrift des Filmdokuments im Koeppen-Archiv Greifswald, S. 267.

[7] Vgl. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/rassismus-pfarrer-patrick-asomugha-morddrohungen-queidersbach (Letzter Zugriff: 10.06.2020).

[8] Für die Bedeutung der Homosexualität im Text Borcherts vgl. Wolf, Benedikt: Die niedere Blume pflücken. Elemente analer Poetik in Wolfgang Borcherts Erzählung ‚Die Hundeblume‘. In: Navigationen. Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. Jg. 18 (2018), Nr. 1, S. 145-158.

[9] Borchert, Wolfgang: Die Hundeblume. In: ders.: Draussen vor der Tür und ausgewählte Erzählungen. Hamburg: Rowohlt, 1956. S. 95-106. Hier: S. 106.

[10] Aus: Graeff, Alexander: Die Reduktion der Pfirsichsaucen im köstlichen Ereignishorizont. Berlin: Verlagshaus Berlin, 2019. S. 86 u. 87.

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