Der kleine Prinz (der Typ also, der plötzlich in der Wüste auftaucht und keine anderen Sorgen hat als Affenbrotbäume zu entwurzeln) malte etwas, das für viele aussah wie ein Hut. Er selbst sagte, das sei eine Schlange, die einen Elefanten gefressen habe. Ludwig Wittgenstein (der Typ also, der Sprache als Spiel mit Regeln verstand oder so ähnlich und als Grundschullehrer zu rabiaten Erziehungsmethoden griff) machte sich Gedanken über das Kippbild des Kaninchens und der Ente und kam zu der Unterscheidung zwischen „etwas zu sehen“ und „etwas als etwas zu sehen“. Als Heinrich Schliemann (der Typ also, der als Hobby-Archäologe Troja entdeckte und seine Frau in dem ausgegrabenen Schmuck fotografierte) vor dem Hügel von Troja stand, sah er vielleicht einen aufgehäuften Sandberg mit ein paar Grasbüscheln darauf oder er sah einen Hügel, der die Stadt Troja verbarg. Wenn ich vor dem Brandenburger Tor stehe, sehe ich vielleicht einen Haufen Steine oder eine geordnete architektonische Konstruktion. Vielleicht sehe ich seine Säulen als Storchenbeine und denke dabei an den Text Dérive Betreiben auf der Strecke Charlottenburg-Mitte Berlin, 5. Oktober 2011 von Ricardo Domeneck. Oder ich sehe ein ehemaliges Grenztor, das nun offen steht, ein Ort für Touristen, an dem es immer Nerven kostet, mit dem Fahrrad durchzukommen. Wie nah kommt meine Vorstellung dem Grenztor? Was ist davon übrig? Woran kann ich mich erinnern? Daran, dass ich am 10. Oktober 1989 mit meinen Eltern da durchgegangen bin oder daran, dass es irgendwo eine Videoaufzeichnung davon gibt? Daran, dass die Mauer um dieses Grenztor zum Steinbruch wurde oder zum Klettergerüst? Dass es als Triumphbogen gebaut zum Denkmal wurde, zum Wahrzeichen oder zur Prägung auf der 50-Cent-Münze? Mir fällt es schwer, das alles gleichzeitig zu denken. Es ist wie ein Kippbild, in dem ich meine Wahrnehmung entweder auf die Ente oder das Kaninchen lenken muss. Wie nah aber komme ich dem Grenztor? Natürlich ist das Grenztor kein Kaninchen und sein Bild nicht so unmittelbar wie das Bild eines Kaninchens. Sich dem, was passiert ist, anzunähern, bleibt unvollständig, selbst, wenn man dort gewesen ist. Aber das Alltägliche verändert sich mit dem Wissen um das, was gewesen ist. Und es werden Lücken sichtbar. Lücken des Wissens, des Begreifens, Lücken in den Archiven. Das historische Kippbild ist immer unvollständig. So als hätte das Kaninchen keine Augen oder die Ente keinen Schnabel. Das ist brutal. Vergessen ist brutal. Und nicht selten ist das Vergessene brutal. Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, diese Brutalität in der Sprache sichtbar zu machen: Lyrik als Kippbild.

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